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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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wir stumm dastanden, und ich hatte keine Ahnung, ob ich ihm glauben sollte.
    »Red keinen Quatsch«, sagte ich schließlich.
    »Ich rede keinen Quatsch. Er lebt da drinnen, solange ich denken kann. Und noch länger.«
    »Warum denn? Ich meine …«
    Iver unterbrach mich. Das hatte ihm schon lange auf der Seele gebrannt. Jetzt hatte er endlich die Gelegenheit, die Flammen zu löschen. Er war nicht zu bremsen.
    »Weil er gaga ist. Er kann nicht draußen sein. Dann dreht er durch. Eigentlich ist er ganz lieb, aber trotzdem geht es schnell schief.«
    »Du lügst.«
    Iver schaute mich an, zuckte mit den Schultern.
    »Bitte schön. Dann lüge ich eben. Es ist nicht mein Bruder. Es ist mein Halbbruder.«
    Ich verstand, dass er es ernst meinte.
    »Es gibt Plätze, an denen …«
    »Das Irrenhaus, meinst du? Hier hat er es viel besser.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß nur, dass Mutter ihn nicht weggeben will, auch wenn sein Vater ein Deutscher war. Und niemand weiß, dass er hier ist.«
    »Niemand?«
    »Nur wir.«
    Iver Malt lachte.
    »Eigentlich gibt es ihn gar nicht. Stell dir das mal vor.«
    »Was meinst du damit?«
    »Er ist weder getauft noch konfirmiert. Er ist nicht gemeldet. Er wird nicht zum Militär einberufen. Es gibt ihn nicht. Das wäre doch toll, oder? Wenn es dich nicht gäbe. Dann könntest du tun, was immer du willst.«
    Alles blieb still um uns herum. Dann kamen die herzzerreißenden Geräusche zurück. Ich musste mir die Ohren zuhalten. Iver lachte, tanzte und schien genauso verrückt zu sein.
    »Hast du ihn nie gesehen?«, fragte ich.
    »Ein paar Mal, wenn Mutter ihm zu essen gibt. Hast du Lust, ihn zu sehen?« Ich schüttelte den Kopf. Iver grinste.
    »Doch, hast du doch. Du hast Lust, Henry zu sehen. Wir nennen ihn Henry.«
    »Nein«, wiederholte ich.
    Iver wurde wieder ganz eifrig und unruhig, als müsste er mir das erzählen, bevor es zu spät war.
    »Er ist riesig. Mindestens zwei Meter. Er isst Kartoffeln, Rüben und Fisch und sonntags selbst gebackenen Kuchen. Stopft alles in sich rein. Ich glaube, er wiegt 180 Kilo. Und sein Kopf ist groß wie ein Ballon, aber es ist nicht besonders viel drin. Sicher, dass du keine Lust hast, Henry zu sehen?«
    »Nein. Ich meine, ja.«
    Iver legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Aber das bleibt unter uns, nicht wahr?«
    »Natürlich.«
    »Kein Wort zu niemandem? Sonst bringe ich dich um.«
    »Nein. Ich sage nichts.«
    »Wenn sie auf dem Mond landen, dann kriegst du ihn zu sehen. Abgemacht?«
    »Abgemacht«, flüsterte ich.
    Plötzlich zog Iver seinen Arm zurück und erstarrte fast auf der Stelle, gebeugt, erbärmlich. Ich drehte mich um. Seine Mutter kam den Weg zwischen den Büschen und Kiefern hinunter, ein Einkaufsnetz in beiden Händen. Sie blieb stehen und betrachtete uns. Ich konnte Ivers Herz schlagen hören. Ich konnte es bis zu mir hören. Dann ging Iver zur Baracke. Seine Mutter folgte ihm. Ich blieb allein an diesem Müllberg stehen. Das Licht war weiß. Ich bekam Kopfschmerzen. Ich bekomme immer Kopfschmerzen von weißem Licht. Der Himmel sah aus wie schmutziges Porzellan. Ich hob einen Stein passender Größe hoch und warf ihn gegen die Luke. Kein Geräusch war zu hören, und einen Moment hatte ich das Gefühl, wie es mich so oft in diesem Sommer überfiel, dass nichts von allem geschehen war. Alles nur Hirngespinste. Ich war nur wieder in meiner eigenen Welt versunken. Doch dann hörte ich es dennoch. Ich hörte ein Klopfen. Jemand schlug von der anderen Seite gegen die Luke, harte, heftige Schläge. So schnell ich konnte, lief ich zum Anleger. Mein Fahrrad stand nicht dort, wo ich es abgestellt hatte. Vielleicht hatte ich es auch woanders abgestellt. Auf jeden Fall fand ich es nicht. Das Fahrrad war gestohlen worden. Ja und? Alles war egal. Langsam ging ich nach Hause. Jetzt war ich an der Reihe, jetzt brannte es mir auf der Seele. Iver hatte mir das Feuer überlassen, und ich musste innerlich brennen mit der Geschichte von Iver Malts Halbbruder, dem unehelichen Sohn des Deutschenliebchens, 23 Jahre musste er alt sein, rechnete ich aus, wenn er ein echter Deutschenbalg war, wenn es ihn überhaupt gab, immer noch minderjährig im Kopf, ein Leben unter der Erde und von Rüben, Fisch und selbst gebackenem Brot ernährt und 180 Kilo schwer. Ich wusste nicht, ob ich es ertrug, dass all das auf meiner Seele brannte. Vielleicht wurde es zu heiß. Vielleicht ertrug ich nicht die Hitze aus diesem Wissen. Sollte der Teufel doch Iver Malt holen. Aber

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