Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
schon von Vornherein überfüllt ist, und es gibt nicht einen einzigen Notausgang. Aber dann fällt mir doch ein, dass ich Abend legte, das schöne Wort, keine große Punktzahl, aber Abend ist ein gutes Wort, viel besser als Dämmerung , auch wenn dies mehr wert ist als Abend , Dämmerung ist das Ende eines Tages oder eines Lebens, Abend ist ein Teil der Fortsetzung, so sehe ich es zumindest. Heute war so ein Abend, Abend mit schönen ruhigen Schatten, die sich im Gras ausstreckten. Ich wollte hier nicht stehen bleiben. Ich wollte weiter. Meine Mutter legte Schar , und sie konnte eine schöne Summe einstreichen, weil das C auch noch doppelt berechnet wurde. Ich hatte eine erbärmliche Reihe, sechs schlaffe Konsonanten und ein e. Mutter beugte sich über den Tisch vor.
»Du kannst te dranlegen, dann bekommst du die Punkte noch mal.«
War das so gedacht? Dass Scharte mitten auf dem Brett liegen und uns angrinsen sollte? Wusste Mutter mehr als ich dachte, dass sie wusste? Hatte sie meine Scharten schon lange entdeckt? Vielleicht hatte sie sie bereits gesehen, als ich mit den Füßen zuerst in der Frauenklinik in der Josefines gate herausrutschte, bereit, jeden Moment abzuhauen?
»Misch dich da nicht ein.«
Aber ich hatte auch noch ein f, und stattdessen legte ich f über und eh unter Mutters r, so dass das Wort freh entstand.
»Freh? Das ist kein Wort.«
»Das ist ein Wort. Das liegt doch da. Freh.«
»Und was soll das bedeuten?«
»Das Gegenteil von brav.«
»Du meinst wohl frech?«
»Vergiss es. 12 Punkte.«
»Du hättest mehr gekriegt, wenn du Scharte gelegt hättest.«
»Ich lege die Worte, wie ich will. In Ordnung?«
»Wie du willst.«
»Ja, genau. Wie ich will.«
Und ungefähr in dieser Form ging es weiter. Wir buchstabierten uns zum Sonnenuntergang hin. Die Worte breiteten sich auf dem Brett aus. Mutter wurde ein C in einem Cello los. Mutter führte. Ich mühte mich mit einem Q ab. Ein Q brannte mir auf der Seele. Ich verlor den Überblick. Hinter der Stirn juckte es. Ich war wieder in meiner eigenen Welt versunken. Mutter weckte mich.
»Du hast Besuch.«
Ich drehte mich langsam um. Da stand Heidi.
»Hei«, sagte sie.
»Hei, hei.«
»Störe ich?«
Mutter stand auf und ging zu ihr.
»Natürlich nicht. Bist du die Heidi?«
»Ja. Heidi Alm. Ich bin in den Ferien bei Lisbeth.«
»Schön, dass du gekommen bist. Willst du mitspielen?«
Das wollte sie, die Heidi Alm hieß, gern. Mutter und Heidi Alm bildeten eine Mannschaft. Woher wusste Mutter, dass Heidi Alm Heidi hieß? Ich hatte nie ihren Namen erwähnt. Das mussten die Tanten gewesen sein, die in der Stadt im Fenster gestanden und mit ihren Kronleuchtern H-e-i-d-i gemorst hatten. Sie schaute mich an, lächelte kurz. Ihre Haut war golden. Das Haar fiel ihr auf die Schultern. Ein Anhänger in der Halsgrube. Nagellack auf drei Fingern. Ich wurde wortblind, verlegen und war außen vor. Wenn das hier nur bald ein Ende nahm. Warum wurde ich so verlegen? War meine eigene Mutter mir peinlich? Stimmte es, was sie gesagt hatte, dass ich mich schämte? Mir kam in den Sinn, genau in dem Moment, dass ich ein unfreier Mensch war. Ich hatte keinen eigenen Willen. Ich war preisgegeben.
»Du bist dran, du Schlafmütze«, sagte Mutter.
Wie sie lachten. Sie lachten über die Schlafmütze. Ich zwang meine Buchstaben aneinander. Ich hätte Fotze legen können, ficken, Warze, BH, ich hätte ein ganzes Gedicht kreuz und quer legen können, oh Scheiße, verdammt. Ich hätte Schnuller legen können! Ich legte Wurst . Von allen Worten in der ganzen Sprache musste ich ausgerechnet einen ganz gewöhnlichen Aufschnitt in den Händen haben, Wurst. Sofort waren Mutter und Heidi Alm am Drücker und fügten an mein W üste an und bekamen so dreifache Punktzahl. Wie gesagt, das musste ein Ende finden. Zum Schluss fand es schließlich ein Ende. Mutter und Heidi Alm gewannen überlegen, aber wenn man ihre Punktzahl durch zwei teilte, was nicht ganz unangemessen war, dann wären wir ziemlich gleichauf gewesen, doch das sagte ich nicht, ich wollte nicht als ein schlechter Verlierer dastehen, was ich außerdem sowieso war, und nicht genug damit, ich war auch kein guter Sieger. Ich hoffte nur, dass Mutter nicht fragte, ob wir Abendbrot essen wollten.
Mutter stand auf.
»Wollt ihr Abendbrot essen? Ich kann ein paar Scheiben zurechtmachen.«
»Gern«, sagte Heidi, »vielen Dank.«
Mutter ging hinaus, ich meine hinein, in die Küche. Und da saßen wir also, Heidi Alm und ich,
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