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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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und setzte mich an den Schreibtisch, der kein Schreibtisch war, nur ein ganz normaler Tisch, auf dem zufällig eine Schreibmaschine stand. Ich stand auf, nahm den Spiegel ab und legte ihn unters Bett. Als ich mit dem Zeigefinger über meinen Schädel strich, fühlte ich eine tiefe Scharte, dort, wo die Haut dünn und stramm ist, als wäre ich immer noch ein Säugling und noch nicht ganz zusammengewachsen. Ich setzte mich wieder an die Schreibmaschine, zog das Blatt Papier aus der Walze, warf es in den Papierkorb, holte den Koffer hervor, den kleinen, und verschloss die ganze Schreibmaschine.
    Nach einer Weile klopfte Mutter an.
    »Chris? Bist du schon im Bett?«
    »Nein.«
    »Darf ich reinkommen?«
    Ich gab keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie die Tür.
    »Kommst du mit baden?«
    »Jetzt?«
    »Ein Nachtbad. Es ist doch erst elf. Und die Luft ist warm.«
    »Hab keine Lust.«
    »Aber du kannst doch mitkommen und auf mich aufpassen?«
    Wir gingen zum Hornstranden hinunter. Außer uns war niemand dort. Die Dunkelheit setzte jäh ein. Alles verlor seine Form und trat als etwas anderes wieder hervor. Das Einzige, was ich hörte, waren langsame Wellen, doch woher sie kamen, konnte ich auch nicht ausmachen. Ich setzte mich ein Stück abseits, während Mutter sich umzog. Dann legte sie den weißen Bademantel auf den Uferfels, hockte sich in die Algen, zitternd und lachend, bevor sie ins Wasser glitt, auf dem Rücken, in das Blaue, Glänzende. Ich rutschte etwas näher. Ich sollte ja auf sie aufpassen. Deshalb war ich nötig. So erinnere ich meine Mutter am besten: Das Wasser, das sich in einem befreienden Moment über ihr wie eine lautlose, weiche Naht schließt.

20
    I ch stand achtern und hielt Ausschau nach allem, was ich verließ, dem Sommerhaus, der Fahnenstange, den Uferfelsen, dem Badeschuppen, der Deutschenbaracke und dem Anleger, auf dem Iver Malt nicht mehr angelte. Nichts war wie üblich, und ich zweifelte, dass es jemals wieder so werden würde. Vielleicht war nichts jemals wie üblich gewesen, vielleicht war nur ich es, der nicht genau genug hingeschaut hatte. Aber die Fähre war die gleiche, Prinsen, die weiße, glänzende Fähre. Der einzige Unterschied war, dass ich also beschlossen hatte, ganz hinten zu stehen, wenn wir von diesem Sommer nach Hause fuhren, und somit war die Fähre auch nicht ganz die gleiche, ob sie nun Prinsen hieß oder nicht. Jedes Mal, wenn jemand sich bewegt, verändert sich etwas, nicht wahr, und die Leute tun es ja die ganze Zeit. Sie bewegen sich. Es entsteht Chaos. Viel mehr gibt es darüber nicht zu sagen.
    Der Kapitän kam aus dem Salon heraus und stellte sich neben mich.
    »Du wirst jetzt also aufs Gymnasium gehen«, sagte er.
    »Ja, werde ich wohl.«
    »Ja, jemand wie du, der eine Schreibmaschine mit sich herumschleppt, der geht natürlich aufs Gymnasium.«
    Er zeigte auf den Koffer, den ich mir zwischen die Füße gestellt hatte, als wüsste ich nicht, dass er genau dort stand.
    »Ja, logo.«
    Die Prinsen fuhr an Nakholmen vorbei. Die kleinen bunten Häuser ließen die ganze Insel wie Spielzeug aussehen. Der Kapitän zündete sich eine Zigarette an.
    »Schlimm, das mit den Leuten von Signalen«, sagte er.
    »Ja.«
    »Nur gut, dass er nicht geschossen und jemanden getötet hat. Wie hieß er noch?«
    »Henry.«
    »Du warst kurz davor, nicht wahr?«
    »Kurz vor was?«
    »Erschossen zu werden.«
    »Er hat nicht auf mich gezielt.«
    »Du kannst nicht wissen, was in so einem Kopf vor sich geht.«
    »Er hat auf niemanden gezielt«, wiederholte ich.
    Der Kapitän schnipste die Kippe ins Meer und rieb sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang, an der ein glänzender Tropfen hing. Früher hatte er etwas Märchenhaftes an sich gehabt. Aber nun nicht mehr. Vielleicht war ich ja auch nur derjenige, der es nicht sah. Ich sah nur die abgetragene Uniform, die Knöpfe, die eigentlich glänzen sollten, die Schuhe, die niemand geputzt hatte, das verrostete Zählwerk. Und den Tropfen unter der Nase, der über den Handrücken lief, den er sich schnell am Hosenbein abwischte. Ich wurde fast wütend.
    Ich wollte, dass es märchenhaft war. Ich wollte, dass er immer noch gleichzeitig auf allen Fähren im Oslofjord Wache hielt und uns zählte, wenn wir an Bord gingen, und segnete, wenn wir an Land gingen. Er sollte uns zählen und ich uns erzählen. Bedeutete das, erwachsen zu werden, wenn alles ganz gewöhnlich wurde? Übrigens wurde ich etwas, das Iver Malt gesagt hatte, einfach nicht los,

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