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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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zielen sollen, diesen aufdringlichen, nervenden Fuß, den ich mit mir herumschleppen musste, und ihn in Fetzen schießen, die Zehen, den Spann, Hacke und Sohle in alle Richtungen, das wäre was gewesen, ein reales Fußbad, damit ich endlich diese widerliche Erinnerung los gewesen wäre. Außerdem würden dann alle Mitleid mit mir haben, nicht zuletzt Heidi, und sagen, es war ein Unfall, unverschuldet, ganz gleich, was Lisbeths Vater, der Richter, davon halten würde. Außerdem hätte ich dann nicht warten müssen, bis ich alt war, um mit einem Stock laufen zu dürfen.
    Ich blieb an der untersten Stelle der Mulde stehen und kam zu dem Schluss, dass nur Unfälle und Verbrechen mich ändern könnten.
    Mutter saß auf der Terrasse, in eine Decke gehüllt. Ich blieb an der Pforte stehen und betrachtete sie. Ich war bereits ein Spion, wusste aber noch nicht, welche Geheimnisse ich enthüllen oder welche ich verschweigen sollte. Das Radio, das sie mit herausgenommen hatte, war ausgeschaltet. Ein dünner Rauchwirbel stieg aus dem Aschenbecher auf. Sie schrieb etwas in das gelbe Notizbuch und schien ganz davon eingenommen zu sein, in ihrer eigenen Welt, in einer von all diesen Welten, die es gab, die es um uns herum gab, in uns, unter uns. Mir fiel ein anderer Satz aus Moby Dick ein, aus den Illustrierten Klassikern, es ist der Wirt Peter Coffin des Wirtshauses The Spouter Inn in Bedford, Massachusetts, der ihn ausspricht: Es gibt doch zu viele Köpfe auf der Welt. Dann wurde Mutter meiner gewahr, schob ihr Notizbuch schnell in die Schürzentasche und winkte. Ich ging zu ihr hoch.
    »Sie sind gelandet«, sagte sie.
    »Ich weiß.«
    »Stell dir vor. Auf dem Mond. Willst du dich nicht ein bisschen setzen? Ich kann dir ein paar Scheiben Brot machen. Hast du Hunger?«
    »Ich gehe lieber ins Bett.«
    »Iver war hier und hat nach dir gefragt.«
    »Und was hast du gesagt?«
    »Dass du bei Lisbeth bist, was sonst? Auch wenn es mir nicht gefallen hat, dass du dort warst. Ist er auch dort hingekommen?«
    »Er hat kurz vorbeigeschaut.«
    »Habt ihr das Feuerwerk gehört?«
    »Ein Feuerwerk? Nein.«
    »Ich habe nichts gesehen, aber auf jeden Fall hat es einen kräftigen Knall gegeben. Aus der Richtung dort. Was hast du eigentlich mit deiner Hand gemacht? Zeig mal her.«
    Ich wich einen Schritt zur Seite.
    »Das war nur Lisbeths Katze. Sie hat mich gekratzt.«
    »Ist was passiert? Ist was nicht in Ordnung?«
    Ich holte tief Luft. Es gab nicht genug Platz für alles in mir. Es wurde zu viel. Es lief über. Ich musste einiges loswerden. Ich hätte sagen können, dass Henry, Iver Malts Bruder, Halbbruder, dieser verdammte Deutschenbalg, dieser arme Bastard, gezielt, geschossen und mich schräg an der Stirn getroffen hatte, oder direkt neben dem Herzen, oder noch besser, dass er, Henry, auf sich selbst gezielt hatte und mit dem Mund voller Mündung abgedrückt hatte. Das wäre etwas gewesen. Das wäre ein besserer Schluss gewesen als diese Kratzwunden, die ich schon erwähnt habe, diese langsamen Scheuerwunden, die ich trotz allem nicht loswerde.
    »Was ist eigentlich mit Vater?«
    Mutter lachte, ein kurzes, verblüfftes Lachen.
    »Was mit Vater ist? Das weißt du doch genau. Was für eine Frage.«
    »Nein. Ich weiß es nicht.«
    »Er hat sich das Bein kaputtgemacht. Das weißt du.«
    »Kaputtgemacht? Ist das Bein jetzt kaputtgemacht worden? Vor einer Woche war es noch gebrochen. Und vorher war es nur der Fuß, mit dem etwas nicht stimmte.«
    »Er kann so oder so nicht laufen, Chris.«
    »So oder so nicht laufen? Kann er keine Krücken benutzen wie alle anderen? Oder einen Rollstuhl? Hä?«
    Mutter stand auf und war kurz davor, den Stuhl umzukippen.
    »Warum musst du alles bis ins letzte Detail nachfragen und immer weiter nachbohren? Ich kann nicht mehr. Kannst du dich nicht ein einziges Mal mit den Dingen zufriedengeben, so wie sie sind? Ist das so schwierig?«
    So hatte ich Mutter noch nie erlebt. Ich wusste nicht, dass so viel Wut in ihr steckte. Es war erschreckend, aber nicht so, dass ich fürchtete, sie könnte mich schlagen, doch sie verbarg etwas, etwas Größeres, Dunkleres, das auch mich anging. Darüber erschrak ich.
    »Entschuldige«, sagte ich.
    Schnell wurde Mutter wieder unglücklich.
    »Ich bin diejenige, die sich entschuldigen müsste, Chris.«
    »Das brauchst du nicht.«
    »Ich habe das nicht gewollt. Ich habe keinen Grund, so wütend auf dich zu sein. Ich bin nur plötzlich so, so müde.«
    Ich ging in mein Zimmer hinauf

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