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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nämlich, dass wir barfuß gehen sollten, sonst fielen wir von der Erde. Ich verstand damals wohl nicht so recht, was sich dahinter verbarg, aber jetzt weiß ich nur zu gut, was es bedeutet. Ich bin viel zu lange in den schönsten Schuhen gelaufen und habe den Halt verloren.
    »Deine Mutter hat nach dir gefragt«, sagte der Kapitän, »das wollte ich dir eigentlich nur sagen.«
    Ich ließ den Kapitän zuerst gehen, blieb noch eine Weile stehen. Der Blinker, der kein Blinker und auch kein Schmuck mehr war, sondern nur ein Stück Metall, von dem sich die Farben gelöst hatten, lag in meiner Tasche. Ich ließ den Schrott ins Kielwasser fallen, und in dem Moment tat ich mir selbst leid. Ein gutes Gefühl. Ich war so traurig, dass ich vor Freude hätte schreien können. Dann nahm ich den Koffer und ging nach vorn. Er war nicht schwer zu tragen. Ich hatte ja kaum etwas auf der Maschine geschrieben. Der Koffer war sozusagen leer. Im Kiosk, der gerade schließen wollte, kaufte ich zwei Booteis von dem Geld, das ich noch übrig hatte. Ich schaute mich im Salon um. Die Armee des Sommers kehrte in die Kasernen des Alltags zurück. Die Schlacht war vorüber. Jetzt wartete ein anderer Kampf. Ausdrücke, die unsere Mütter oft benutzten: Jutehemd und Haferbrei. Jetzt werden wir die Jutehemden überziehen und morgens und abends nur Haferbrei essen. Wir sollten heim in die Jahreszeit der Genügsamkeit. Mutter saß nicht im Salon. Sie stand draußen auf Deck, ganz vorn am Bug. Sie hatte ihr Kopftuch abgenommen. Wir näherten uns der Stadt. Als ich ihr das eine Eis geben wollte, lächelte sie und zeigte nach vorn.
    »Bewahr es für Vater auf«, sagte sie.
    Ich schaute dorthin, wohin sie zeigte. Vater wartete auf uns am äußersten Ende des Anlegers B. Er hatte keine Krücken dabei und trug, soweit ich sehen konnte, auch keinen Gips mehr, und in einem Rollstuhl saß er jedenfalls nicht. Er winkte. Ich hob den Arm und erwiderte sein Winken. Hier will ich abschließen. Ich habe geschrieben, was ich habe schreiben wollen. Mehr war da nicht. Ich werde bald weiterziehen, vielleicht schon morgen. In meinem Alter bedeutet weiter zurück. Nichts eilt, deshalb habe ich nur wenig Zeit. Eins möchte ich nur wiederholen: In diesem Sommer wurde ich kein schlechterer Mensch, aber auch kein besserer. Ich näherte mich nur dem Menschen, der ich bin.

PROLOG II

E s gibt Städte, von denen du nichts weißt. Du kannst dorthin gehen und neu anfangen. Es gibt immer einen Ort, an dem du neu anfangen kannst. Wenn nicht, wäre es unerträglich. Mit meiner eigenen Stadt war ich fertig und sehnte mich nach einer anderen Ecke, die ich umrunden konnte. Ich sehnte mich nach Hausfluren mit anderen Türen, Straßen mit neuen Rinnsteinen. Ich hatte alle Sommer Adressen eingesammelt, doch meine eigenen Jahreszeiten und Schlüssel waren mir verlorengegangen. So dachte ich also, als das meiste schon lange her war und ich zum letzten Mal am Rand des Schiffsanlegers stand und diese kühlen blauen Sommer, und ganz besonders den einen, die Narbe im Kalender, in Vergessenheit geraten ließ, während die Stadt am Ende des Fjords im kalten Nebel des Dezembers verborgen lag und nur der Klang der Glocken im Rathausturm mich an das erinnerte, was vorbei war. Ich war bereits ein älterer Herr. Ich war der, den ich so oft vor mir gesehen hatte, der mit dem Stock. Ich hörte nur auf einen Namen, Funder. Ich heiße Funder. Die Fähren dagegen, die kaum noch aussehen wie Fähren, hatten neue Namen bekommen. Trotzdem fuhren sie immer noch die gleiche Strecke, in der offenen Fahrrinne zwischen Frost und Ferien. Ich war derjenige, der woanders hinfahren wollte. Ich sollte geheilt werden. Ich hatte meine alten Briefmarken weggeworfen. Ich hatte meine neuen Karten studiert. Zwei Städte hatte ich mir besonders ausgeguckt. Eine davon gibt es nicht. Sie heißen Karmack und Solvang. In Karmack pflegen die Alten zu sagen: Wenn du brav bist, kommst du nach dem Tod nach Solvang. In Solvang sagt man genau das Gegenteil: Wenn du böse bist, kommst du nach dem Tod nach Karmack. Nur noch eine Kleinigkeit: An allen Städten, die du besuchst oder die du hinter dir lässt, steht ein Schild, das die exakte Anzahl der Bewohner zeigt. Das ist sehr wichtig. Wir müssen wissen, wie viele wir sind. Sonst kommt alles durcheinander. Die Schilder von Karmack und Solvang haben immer die gleiche Zahl gezeigt. Ganz gleich, wer brav oder böse war, die Zahl blieb die gleiche. Daran will ich etwas ändern. Aber

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