Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
sollte nicht lieber auf der Rückseite der Schilder eine Zahl stehen, nämlich wie viele Menschen es im Rest der Welt gibt, wenn du diese Städte, Karmack und Solvang, verlässt?
DER ÜBERMITTLER
A ls die Anzahl der Unfälle in Karmack allein im Laufe des Frühlings und Sommers im Verhältnis zum Vorjahr um ganze achtzehn Prozent stieg, sahen sich die Behörden gezwungen, einen Übermittler einzustellen, und das trotz einer bereits ziemlich angespannten Finanzlage. So konnten sie es sich beispielsweise nicht mehr leisten, abends die Straßenlampen einzuschalten, was wiederum zu weiteren Unfällen führte, zwar nicht besonders ernsthaften, aber Schürfwunden, Gehirnerschütterungen, ausgeschlagene Zähne und gebrochene Oberschenkelhälse haben auch ihren Preis. Und jetzt, da der Herbst vor der Tür stand, hatten sie keine andere Wahl. Die Stellung eines Übermittlers wurde Anfang September in The Record ausgeschrieben, der einzigen Zeitung des Distrikts. Eine Woche nach Ablauf der Frist hatten sich nur zwei Männer und eine Frau beworben, was nicht ganz unerwartet kam, wenn man die Aufgaben eines Übermittlers in Betracht zog. Diese drei wurden der Reihe nach zu einem Gespräch mit der Kommission eingeladen, die aus Patrick Oak, Will Tyler und Ross Noden bestand, Sheriff, Arzt und Pfarrer, drei Männer, die das beste Mannesalter bereits überschritten hatten. Im Grunde genommen drehte sich alles um diese drei Männer in dieser Stadt, die also Karmack hieß und die anderen Städten gleicher Größe ähnelte mit ihrer Hauptstraße, der Union Avenue, ihren niedrigen Gebäuden und ihren früher einmal gepflegten Gärten und frisch gestrichenen Zäunen, abgesehen von all diesen Unfällen, die die schwer geprüften Einwohner zu dieser Zeit quälten. Die zwei ersten Bewerber konnten ziemlich schnell gestrichen werden. Bob Spencer, ein 40 Jahre alter arbeitsloser Truckfahrer, litt an irgendeiner Art von Hautkrankheit, die ihn wenig ansprechend aussehen ließ, um es vorsichtig auszudrücken. Sein Gesicht war voller Pockennarben und fettig, und die Augen wurden zwischen Stirn und Wangen zusammengepresst. Deshalb sah es so aus, als würde er ständig blinzeln. Er erwiderte nie den Blick anderer, und niemand hatte Lust, seinen Blick zu erwidern. Allein das machte ihn als Übermittler ungeeignet. Außerdem hatte er anscheinend ein schwieriges Temperament. Bob Spencer vergeudete die Zeit der Kommission, indem er sich überhaupt auf diese Stelle beworben hatte. Die Frau, Mrs Haven, erschien auf den ersten Blick vielversprechend. Sie war die 38 Jahre alte, alleinstehende Mutter eines Mädchens von zehn Jahren, was natürlich einige Probleme bei einer Tätigkeit wie dieser hätte aufwerfen können, doch die Kommission wollte ihr eine Chance geben. Sie hatte früher die Eintrittskarten für The Majestic, das einzige Kino der Stadt, verkauft, das aber seit langem geschlossen war. Sie war gepflegt und hübsch, aber nicht zu hübsch, sie hatte eher so ein Gesicht, mit dem man alles Mögliche assoziieren kann und das man vergisst, sobald man sich umgedreht hat. Was im Grunde genommen gut passte. Die Kommission war also bereit, Mrs Haven eine Chance zu geben, allerdings bevor sie den Mund öffnete und ernsthaft zu reden begann. Ihre Stimme war schneidend und durchdringend, und es war einfach eine Qual, ihr zuzuhören. Es ging nicht. Die Angehörigen litten ja schon von vornherein genug Qualen, da konnte nicht auch noch ein Schreihals als Krönung dazukommen. So stand die Kommission also nur noch mit einem Bewerber da, Frank Farrelli. Was war über Frank Farrelli noch zu berichten, außer dass er sich um die Stelle als Übermittler bewarb? Ehrlich gesagt: nicht besonders viel. Er war 35 Jahre alt und geboren und aufgewachsen hier in Karmack. Er hatte sich in keiner Weise besonders hervorgetan, aber andererseits hatte auch niemand etwas an ihm auszusetzen. Nach der Highschool frönte er eine Weile dem Müßiggang, oder er dachte nach, wie er es selbst bezeichnete, bevor er eine feste Stelle an Schalter Drei des Bahnhofs von Karmack bekam und dort Fahrkarten verkaufte. Zu der Zeit, als die Züge hier noch hielten. Vor fünf Jahren war damit Schluss, und die Stelle an Schalter Drei war nicht mehr fest. Seitdem war er arbeitslos und konnte noch besser nachdenken, ohne dass es besonders viel nützte. Sein Vater starb, als Frank Farrelli dreizehn Jahre alt war, und er hatte noch nie das Meer gesehen. Er wohnte daheim bei seiner Mutter und hatte
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