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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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verführen lassen, ein Bier zu trinken. Das sprach ganz klar zu seinen Gunsten. Vielleicht kam aus all dem Elend doch noch etwas Gutes heraus. Steve lag bereits auf dem Operationstisch und war noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Frank setzte sich ins Wartezimmer. Eine erschöpfte, freundliche Krankenschwester kam mit einem Becher Kaffee. Nichts Neues, sagte sie und verschwand wieder. Eine Stunde später tauchte auch der Sheriff auf, setzte sich neben Frank, nahm den Hut ab und fing an zu reden.
    »Die Leute haben sich nicht mehr unter Kontrolle. Gleich unter der Oberfläche sind sie nichts anderes als Tiere. Wilde Tiere, Frank. Aber sie wissen nicht, auf wen sie eigentlich wütend sind, und dann kann es wo auch immer und wann auch immer knallen.«
    Frank wartete ein wenig, bevor er fragte:
    »Die Leute?«
    »Wir auch, Frank. Glaub meinen Worten. Wir auch. Wenn sich die Gelegenheit bietet, dann werden auch wir zum Tier. Verdammt, das werden wir. Wir sind auch nicht besser. Wir sind nicht einmal Tiere. Wir sind Untiere!«
    »Ja, man muss sich nur Mrs Stout ansehen.«
    Der Sheriff drehte sich abrupt zu Frank um.
    »Was zum Teufel soll das heißen?«
    Frank wurde es ganz flau, und er bereute, dass er überhaupt etwas gesagt hatte, aber er meinte, er hätte auch ein gewisses Rederecht, immerhin war es sein Kumpel, der zwischen Leben und Tod schwebte.
    »Auf jeden Fall hat sie sich aufgeführt, als ob …«
    Der Sheriff unterbrach ihn.
    »Jeder Mensch hat seine Art der Trauer, Farrelli! Und es ist nicht unsere Sache, darüber zu richten. Krieg das in deinen Schädel.«
    »So war das nicht gemeint.«
    »Ich weiß nicht, was du meinst, Farrelli. Ich höre nur, was du sagst. Und jetzt wirst du verdammt gut zuhören, was ich dir zu sagen habe, da du offenbar vergessen hast, dass ich das schon einmal gesagt habe. Hörst du mir zu?«
    »Ja. Ich höre.«
    »Keine Trauer ist wie die andere. Sie ist wie eine Unterschrift. Du kannst dein Testament mit deiner Trauer unterschreiben. Und weißt du, was die Tinte dafür ist? Weißt du das?«
    »Nein.«
    »Das ist der Schmerz, Farrelli. Und es gibt immer reichlich Tinte.«
    Mehr sagten sie nicht. Der Sheriff saß da und zupfte an seinem Stern. Nach einer Weile drohte Frank einzuschlafen. Er merkte, dass sein Kopf nach vorn kippte, das Kinn traf den Brustkasten und er war kurz davor einzuschlafen. Er kämpfte darum, dem Schlaf auszuweichen, richtete sich auf, doch es passierte wieder, als wäre er wie eine Marionette an unsichtbaren Drähten befestigt und würde von jemandem herumkommandiert. Irgendwann richtete er sich nicht wieder auf, sondern sank in einen dünnen, haarfeinen Schlaf, in dem die Träume in flachem, silberklarem Wasser vorbeiflossen, und überall herrschte die Kindheit, in der sie Eidechsen entlang den Bahngleisen fingen, in der April Avenue Ball spielten, und es roch nach heißem Asphalt, und Martin, Steves Vater, rief nach ihnen, und er hatte Cola in einem Eimer mit Eiswürfeln in der Werkstatt, und Franks Vater fuhr sie das kurze Stück dorthin, nur um die Gelegenheit zu nutzen, den tollsten Chevrolet in der Nachbarschaft zu zeigen, und den restlichen Sonntag liefen sie am Ufer des Snake Rivers entlang und badeten in der Mulde unterhalb der Mühlen, und die Mütter wechselten sich dabei ab, auf sie aufzupassen, damit die anderen sich im Schatten unter den Avocadobäumen ausruhen, Himbeersaft trinken und ein wenig über ihre hoffnungslosen Mannsleute tratschen konnten, die sie aber trotz allem immer noch liebten. Als Frank aufwachte, spürte er eine leichte Trauer, die aber nicht mit der Trauer zu vergleichen war, die Mrs Stout empfinden musste, nein, diese war nur eine schwache, fast durchsichtige Unterschrift. Er glaubte, er wäre nur ein paar Minuten weggetreten, höchstens eine Viertelstunde, doch es war schon kurz vor Mitternacht. Der Sheriff stand an der Tür und unterhielt sich mit dem Arzt. Frank begriff sofort, dass es nicht gut um Steve stand. Die Gesichter waren eindeutig. Gesichter können nicht lügen. Das musste er sich merken. Dass Gesichter nicht lügen können. Und er bekam Recht. Es stand nicht gut um Steve. Er war noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen und würde es wahrscheinlich auch nie tun. Und sollte er es gegen alle Vermutungen doch, dann wäre er das reinste Gemüse. Es war der Arzt, der so sprach. Der Schaden am Gehirn war massiv. Er war an Maschinen angeschlossen. Er brauchte Atemhilfe.
    »Wir müssen die Familie benachrichtigen«,

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