Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
gebrochenen Flügel hinter sich herschleift. Und das hatte nichts mit Verrücktheit zu tun.
Sie rührte ihn, wegen ihres verlorenen Vertrauens in Erwachsene, in die Welt. Wie auch nicht? Sie haben ihren Bruder quasi aus seinem Zuhause entführt. Vielleicht sogar getötet. Das jedenfalls glaubte die Polizei.
Was für ein furchtbarer, grauenhafter Schock musste das sein, unter dem sie in die Knie gegangen war!
Nun brauchten sie jemanden, der Lina wieder aufrichtete, sie stützte, ihr die ersten neuen Schritte beibrachte. Und das war er, Nick Ritter.
Ritter Nick.
Er konnte gar nicht anders. Er musste es ganz einfach tun. Und er war froh darüber, es zu machen!
Nein, es war nicht Lina, die bekloppt war. Bekloppt waren diejenigen, die ihr das angetan, die Jan aus ihrem Leben gerissen hatten. Die waren bekloppt. Krank. Verrückt. Abartig. Pervers. Echte Psychos. Nicht Lina.
Bestimmt war sie unter normalen Umständen sogar ein tolles Mädchen. Er fand sie hübsch. Sie schien klug zu sein, besuchte ein katholisches Gymnasium, das wusste er von Marion. Und sie mochte Rockmusik.
Er wollte sie kennenlernen. Die echte Lina. Er würde sie keinesfalls aufgeben!
Nick schloss seine Gitarre an. Er legte die CD von den Foo Fighters ein und drehte sie auf volle Lautstärke. Wieder und wieder das gleiche Stück, das er auf Wiederholung gestellt hatte: „Walk“.
Der behutsam beginnende, sich allmählich steigernde und schließlich in einem fulminanten Finale endende Rocksong war der Hammer!
Nick war süchtig nach dem Lied, kannte Text und Akkorde in- und auswendig. Er löste sich in den leuchtenden Klängen auf, wenn er die Gitarre in Händen hielt, zu der CD abrockte, die Worte herausschrie:
„I never wanna die
I’m dancing on my grave
I’m running through the fire
Forever, whenever
I never wanna die
I never wanna leave
I never say goodbye.“
Nach dem sechsten oder siebten Durchlauf war er heiser und verschwitzt. Aber er fühlte sich wie von innen gereinigt.
Er klaubte wie nebenher die Handtücher aus der Wanne und nahm ein kühles Bad.
Danach wärmte er sich das Essen auf. Den Teller trug er auf die Terrasse. Während er aß, kreisten seine Gedanken wieder um Lina. Er kaute auf den Zucchini herum, als wären sie aus Gummi.
Es kam ihm vor, als wenn Lina nie in den Garten ging oder überhaupt je raus. Bis auf den Tag, an dem das mit dem Beet passiert war, hatte er sie bestimmt nicht im Freien gesehen.
Nur in ihrem Zimmer. In der Diele. Im Esszimmer. In der Küche. Im Wohnzimmer. Im Bad. Unter der Dusche. – Vor seiner Tür, wenn er Musik machte.
Was war er wohl für sie? Eine Art Entertainer? Ihr Alleinunterhalter? Ein musizierender Spaßmacher? Ihr privater DJ? So was in der Art, könnte sein. Das wäre schön.
Nick grinste schwach. Er malte sich aus, wie sie neben ihm herging, rannte, mit ihm um die Wette lief, oben auf der Waldlichtung bei den grünen Steinen. Ihr Honighaar wehte wie ein schimmerndes Seidentuch im Wind.
Die kniehohen Grashalme würden ihnen weich und fest zugleich um die Beine schlagen. Er wäre ihr einige Schrittlängen voraus, aber am Ende ließe er sie gewinnen. Sie würden sich lachend auf seinen Klippen niederlassen, auf den Rücken legen und versuchen, in den Wolken über sich Gebilde zu erkennen.
Hm, warum eigentlich nicht?, überlegte Nick. Warum soll ich nicht versuchen, sie dorthin mitzunehmen? Allein sein. Klar, das braucht jeder mal. Aber nicht für den Rest seines Lebens. Lina muss unbedingt raus!
Sein Entschluss stand erst recht fest, als er die mutlosen Gesichter von Marion und Thomas bei ihrer Rückkehr sah: Sie signalisierten schon beim Eintreten, dass der Besuch bei dem Psychologen nicht viel mehr gebracht hatte als eine neue Schachtel Tabletten.
Und Lina?
Das Mangamädchen mit den Filmleichenaugen verschwand im Untergeschoss. Ohne einen Blick für Nick, ohne ein Wort.
Wasser rauschte.
Es rauschte.
Und rauschte.
Der Geruch von Pfirsich drang bis zu ihnen.
Irgendwann danach – Linas verstohlene Schritte zum Sonnenzimmer. Nick wollte ihr so gern nachlaufen, wollte sie in die Arme schließen, bis der Eispanzer um ihr Innerstes schmolz und das ganze Leid herausfloß. Er wollte ihr sagen, dass sie ihm vertrauen konnte, er bei ihr war, dass sie das gemeinsam schaffen könnten.
Sie musste nur den Knebel aus dem Mund nehmen und reden und sie musste ihre Scheuklappen ablegen, damit sie sah, dass sie nicht länger allein war.
Nick ging nach oben. Er öffnete Linas
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