Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
Un-glaub-lich gern.
Wie auf Kommando bekam er Drachenohren.
Thomas nickte, als ob er ernsthaft darüber nachdächte und ihm zustimmte. Aber dann sagte er: „Ich verstehe. Wenn es dir also nichts ausmacht hierzubleiben, dann …“
„Shit, hör auf! – Hast du mir gar nicht zugehört? Kapierst du es nicht?“
„Nicolas! Reiß dich bitte zusammen, ja!“
Erschrocken hielt Nick inne. „Entschuldige. Tut mir echt leid. Ich meinte nur …“
„Lass gut sein.“ Thomas machte eine beschwichtigende Geste. „Jetzt hab ich’s kapiert.“ Er wandte sich ab. „Aber wir müssen los, zu unserem Termin bei Doktor Schilling.“
Halb im Weggehen schaute er sich noch mal um. „Wir werden in zwei, drei Stunden zurück sein. Ach ja! Im Kühlschrank steht Gemüseauflauf, den brauchst du nur in der Mikrowelle aufzuwärmen. Also, tschüss, bis nachher.“ Er grinste schwach und benutzte zum Abschied eine Redewendung aus Nicks Kindheit, eine, die Thomas immer gebraucht hatte, wenn er sehr zufrieden mit ihm gewesen war. Eine Redewendung, die darin bestand, Nicks Namen einfach umzudrehen und aus dem kleinen Bengel, der er gewesen war, einen edlen, guten und gerechten Jüngling zu machen: „Ritter Nick!“
Allein sein.
Das brauchte jeder mal.
Nick stand im Mondzimmer. Er ließ die Stille, die gar nicht still war, der nur die Geräusche von Menschen fehlte, auf sich wirken.
Knacken im Gebälk.
Knarzen der Dielen.
Rufe von Vögeln.
Das Nachgluckern von Wasser in den Rohren: Lina hatte zu lange geduscht …
Er legte den schwirrenden Kopf in den Nacken, schloss die Augen und beschwor ein Bild herauf: Lina unter der dampfend heißen Dusche. Ihre Gestalt schien im Dunst fast unsichtbar, doch zeugte das nachdrückliche Scheuern einer Bürste auf Haut und Linas Wimmern von ihrer Anwesenheit.
Er hatte es selbst gesehen.
Er hatte es selbst gehört.
Gestern Nacht.
Nick war aufgewacht, weil er dringend pinkeln musste. Auf dem Weg zur Toilette war ihm aufgefallen, dass Linas Tür aufstand. Das Zimmer lag verlassen im Dunkeln, die Betttruhe war leer, der Deckel stand auf. Er hatte lange gezögert, sich aber letztlich dafür entschieden, nach ihr zu sehen.
Im Kellergeschoss empfingen ihn feuchte Wärme, der Pfirsichgeruch von Duschgel, Linas Schluchzen. Sie bekam gar nicht mit, dass er ihren Namen rief. Erst leise, dann lauter. Der prasselnde Brausestrahl und ihr Weinen verschluckten es. Gegen seinen Willen, voll ratloser Faszination über ihr Tun, beobachtete Nick die nebelartigen Schemen des Mangamädchens, die fahrigen Bewegungen, mit denen sie sich regelrecht folterte, als wollte sie sich aus der eigenen Haut schälen.
Wenn ich derartig heiß duschen würde, hatte er unbehaglich gedacht, würde mir garantiert das Fleisch von den Knochen fallen wie bei einem gekochten Huhn.
Was Lina sich da antat, musste unglaublich schmerzhaft sein. Urplötzlich schämte er sich über seine Anwesenheit. Ohne sich nochmals bemerkbar zu machen, schlich er zurück. Er wünschte, er hätte nicht gesehen, was er nun einmal gesehen hatte. Nick war dankbar gewesen, als Marion schließlich aufstand und dem Spuk ein Ende bereitete.
Er straffte sich, ging an seinen Computer und loggte sich bei ICQ ein. Wie erhofft, war Luki da. Marvin ebenfalls. Ihre Profilgesichter grinsten ihm entgegen. Das eine breit, das andere albern. Sie waren also wieder in Dortmund, sodass er ihnen seine Nachricht gleich chatten konnte, anstatt dass sie diese zeitversetzt erhielten. Er versuchte ihnen in wenigen Sätzen plausibel zu machen, wer Lina war. Und aus welchem Grund er noch auf dem Mühlenhof blieb.
Nachvollziehen konnten sie das allem Anschein nach nicht. Sie stichelten, dass er sich lieber mit einer Bekloppten abgab, als mit seinen besten Freunden abzuhängen. Er solle aufpassen, damit er nicht selbst am Rad drehe, weil er „crazy Lina“ zu lange das Händchen gehalten hatte.
Als Nick stocksauer erwiderte, sie sollten keine Scheiße reden, meinten sie einhellig, er verstünde keinen Spaß mehr.
Er verabschiedete sich übereilt.
Blödmänner, brodelte es in ihm. Die haben sie ja nicht mehr alle auf dem Sender. Von wegen „crazy Lina“! Sie ist nicht bekloppt. Kein bisschen!
Er presste verärgert die Lippen aufeinander, vergaß dabei völlig, dass er noch vor wenigen Wochen ähnlich gedacht hatte. Bis er sie näher kennenlernte.
Ja, da war etwas an ihr, das ganz und gar nicht stimmte, was ihn anrührte, wie ihn ein Vogel anrührte, der einen
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