Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
antwortete auf alles. Und ehe er sich versah, erzählte er den Schwestern sogar in abgeschwächter Form von der Sache mit Lina. Möglicherweise, weil sie Zwillinge waren. Genau wie Jan Linas Zwillingsbruder war.
Linas Zwillingsbruder.
Dieser Gedanke erregte unterschwellig Nicks Aufmerksamkeit, wie ein juckender Mückenstich, an dem man ohne nachzudenken kratzt.
Nachdem er mit den Mädchen geredet hatte, fielen ihm zwei Dinge auf. Erstens hatte er sich in Melania und Bianca Grau getäuscht. Wie es dazu kommen konnte, war ihm schleierhaft. Am wahrscheinlichsten waren seine Vorurteile. Nun zeigte es sich jedoch, dass sie richtig in Ordnung waren, von Aufgeblasenheit fand er bei näherem Hinschauen keine Spur mehr.
Zweitens fühlte er sich verblüffenderweise weniger schlecht. Es ist wie mit einem verdorbenen Magen, dachte er. Wenn man sich erstmal ausgekotzt hat, geht es einem gleich wieder besser.
Zurück im Mühlenhaus stellte er fest, dass Lina noch immer – oder schon wieder? – im Bettkasten war. Er musste ihr das Essen ins Sonnenzimmer bringen. Ein weiterer Tiefschlag. Sie erschien auch nicht, als er am Abend die Foo Fighters spielte. Dabei schrie alles in ihm danach, sie zu sehen.
Nur einem Bruchteil seiner Unaufmerksamkeit verdankte er es, dass alles wieder auf Null stand. Er war ein Vollidiot. Nick hätte brüllen mögen! Stattdessen wechselte er den Song.
Er spielte die Puddle of Mudd, sang in heiserem Tonfall den Chorus von „She Fucking Hates Me“.
Klang treffend!
„La la la …“
Und es war befreiend. O ja, die Musik war und blieb ein fantastischer, absolut cooler Ort! Er bestand aus Klängen, Lichtern, Farben, die um ihn herumwirbelten wie bunter Leuchtschnee. Sie bescherte ihm ein Hochgefühl, für das Nick nur einen Vergleich kannte: Labsal für die Seele.
Hier konnte er sich völlig verlieren, aber auch wieder zu sich finden. Die Musik raubte ihm den Verstand, bescherte ihm jedoch gleichzeitig einen klaren Kopf. Sie riss ihn empor – und setzte ihn behutsam wieder ab. Die brandige Seelenstelle, die zwischen Herz und Magen lag, beruhigte sich.
Schade, dass er diesen Ort verlassen musste, sobald er aufhörte, auf den Saiten der Gitarre zu spielen. Musik war seine Panazee. Er wünschte, er könnte Lina von diesem magischen Allheilmittel abgeben.
Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen
Als ich die Zeitung las, implodierte etwas in mir. Wirbelige Trümmer sogen mich mitten hinein ins Chaos. Tausend und abertausend Schattierungen von Schwarz rissen mich in ein Déjà-vu des Grauens, schrien mir die entsetzliche Wahrheit ins Gesicht. Eine Wahrheit, die ich nicht für alle Ewigkeit verbergen kann.
Wenn ich zuhause wäre, würde ich in den Garten gehen und auf die Kastanie klettern. Einen Ast nach dem anderen besteigen, wie die Sprossen einer Leiter. Hoch und höher. So hoch, dass ich Angst bekomme.
Oben zerrt der Wind an mir. Es schaukelt. Ich lasse mich fallen. Im Fallen halte ich die Arme eng an den Körper gepresst. Ich unternehme keinen Versuch, den Aufprall abzufangen, ihn zu mildern.
Hart. Meteoritengleich schlage ich auf dem Rasen auf. Der Schmerz zuckt als Blitz durch meine Fußsohlen, schießt durch den Körper, leuchtet grell in meinem Kopf. Ich knirsche mit den Zähnen.
Noch einmal klettere ich hinauf.
Freier Fall.
Aufschlagen.
Einfach, weil es weniger wehtut als diese abscheuliche Sache.
Ich frage mich, wie lange es dauert, bis Nick diese abscheuliche Sache über mich herausfindet. Ich spüre, dass dieser Tag unaufhaltsam näher rückt. Einmal muss es ja sein, das weiß ich. Und ich will es so. Warum sonst habe ich begonnen mit ihm zu reden, Bruder, ihm zu … vertrauen?
Es ist, als hätte ich einen Verband auf eine blutige Wunde gelegt, der angetrocknet ist. Sie wollen ihn unbedingt entfernen – und werden das auch tun. Dafür haben sie Nick geholt, nicht wahr? Nur dafür.
Ich habe Angst.
Es wird höllisch wehtun, wenn er die Mullbinde abmacht! Egal, ob er sie behutsam löst. Oder mit einem Ruck. Und was darunter zum Vorschein kommt, ist kein schöner Anblick, Jan. Für niemanden. Ganz sicher nicht. Enzg chirso ochtn!
9
Am Donnerstag riefen Nicks Eltern an. Sie hatten ihren Urlaub beendet und waren wieder zu Hause. Nick wechselte einige Sätze mit seinem Vater, der ihm erzählte, dass er sich eine Angel zugelegt und die meisten Urlaubstage in einem alten Holzkahn auf einem Bergsee verbracht hatte. „Du kannst mir glauben: Es gibt nichts Besseres“, behauptete
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