Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
Unterhaltung schlicht: Ich nehme einen Erdbeerbecher – Ich auch – Mit extra Sahne – Klar – Und danach eine Cola.
Er lachte laut, wofür er die Verwunderung der Übrigen erntete. Er musste dennoch weiterlachen.
Nick hatte keinen blassen Dunst, wie viele Versionen der Löffelchensprache existierten. Nicht wenige Kinder benutzten diese schlichte Geheimsprache zeitweise. Dicke Freunde. Banden. Geschwister, die sich nahestanden.
Lukas, Marvin und er hatten beispielsweise die Variante bevorzugt, bei der die Vokale verändert wurden. A wurde alalafa, e – elelefe ausgesprochen und so weiter.
Das war Jahre her. Damals gingen sie noch zur Grundschule. Ihre Eltern hatten die Köpfe über sie geschüttelt und mittlerweile waren sie längst da rausgewachsen.
Nicht so Melania und Bianca Grau. Zwillingsschwestern, die so miteinander verflochten waren, dass sie noch immer in ihrer Geheimsprache kommunizierten.
Und Zwillingspärchen waren häufig sehr eng miteinander verbunden! Er hatte mit seinem „Linesisch“ unter Umständen richtig gelegen: Könnte es nicht sein, dass die Zwillinge Lina und Jan sich ebenfalls in ihrer eigenen Sprache unterhalten hatten? Einer Zwilling-Geheimsprache, komplizierter als Löffelchen und deshalb für Außenstehende nicht ohne Weiteres erkennbar?
Als Max ihm mit dem Ellenbogen in die Seite stieß und Everest gleichzeitig fragte: „Ey, alles klar, Alter?“, hörte er endlich auf zu lachen.
„Ja“, japste er. „Ich bin okay. Aber ich muss nach Hause! Bis dann!“
Er konnte ihre fragenden und irritierten Blicke in seinem Rücken spüren, als er zu seinem Rad lief und losfuhr. Nick war sicher: Nur selten hatte er die Strecke zum Mühlenhof in derart kurzer Zeit zurückgelegt! Es musste an diesen zwei neuen Gedanken liegen, die sein Hirn wie Satelliten umkreisten: Linesisch und Erdbeeren.
Sein Unterbewusstsein hatte unterschwellig weiter nach einer Verbindung in Linas Verhalten gesucht, daran genagt wie an einem Knochen und sie eventuell, mit ein wenig Glück, in dem Augenblick gefunden, in dem Melania in ihrer Geheimsprache Erdbeereis aussuchte.
Denn Erdbeeren waren es, die den Kuchen, das Obst, die Marmelade und das Beet miteinander verbanden und Linas extremes Verhalten ausgelöst hatten. Erdbeerboden. Erdbeermarmelade. Erdbeerbeet. Erdbeerpflanzen. Lina hasste Erdbeeren!
Als wären es die Früchte der Hölle.
Als er am Mühlenhof ankam, waren Marion und Thomas im Aufbruch begriffen. Nick hatte komplett vergessen, dass sie bei Freunden zum Grillen eingeladen waren.
In der Diele, praktisch zwischen Tür und Angel, sprudelte er seine Schlussfolgerung über die Erdbeeren hervor. Und die zweite, weitaus wichtigere:
„Eine Geheimsprache?“, fragten seine Tante und sein Onkel im Chor.
„Genau. Ihr wisst schon, ähnlich wie Löffelchen. Lina könnte eine mit Jan entwickelt haben, in die sie verfällt. Ihre Zwilling-Geheimsprache.“
„Du meinst Idioglossie?“ Langsam ließ Thomas die Klinke der Haustür, die er schon umfasst hielt, wieder los.
„Falls das so heißt – ja.“
„Ja, Idioglossie“, bestätigte Thomas. „Bei sehr jungen eineiigen Zwillingen kann man oft eine Sondersprache beobachten, die nur zwischen den beiden verwendet wird. Anstelle eines Erwachsenen oder Elternteils sind Zwillingspaare häufig füreinander die engsten Bezugspersonen. Das kann dazu führen, dass sie auf ihre eigene Weise kommunizieren. Aber diese Sondersprache verschwindet in der Regel, wenn sie älter werden. Sie wächst sich aus.“
„Was, wenn sie sich in diesem Fall nicht ausgewachsen hat? Sondern, im Gegenteil, mitgewachsen ist, sich entwickelte, komplexer wurde? Wie bei Kleinkindern, die immer besser sprechen lernen.“
Sie starrten Nick an, als hielte er ihnen den Stein der Weisen vor die Nase.
„Na ja“, murmelte er unbehaglich. „Das ist bloß eine Idee. Solls ja geben. Denkt mal an Nell.“
Er spielte auf den gleichnamigen Film mit Jodie Foster an, in dem sie das Mädchen Nell verkörperte, das mit ihrer Zwillingsschwester und der sprachbehinderten Mutter in einer abgelegenen Hütte im Wald ohne Kontakt zur Außenwelt aufwuchs. Aus diesem Grund sprach sie eine eigenartige, für andere Menschen unverständliche Sprache, die sie mit ihrer Schwester entwickelt hatte.
Nach dem Tod der Schwester und (Jahre später) dem der Mutter fand man Nell. Es dauerte lange, bis man Zugang zu ihrer Sprache und zu Nell erlangte.
„Übertreib nicht, Nick. Das ist ein Filmdrama“,
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