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Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Titel: Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Ludwigs
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Motors, das sich zum Zirpen der Grillen und den Rufen von Vögeln gesellte und sich harmonisch wie eine Melodie mit ihnen verband, ehe es verklang.
    Eine vertraute Komposition, die Nick, seit er allein hierherkam, mit dieser Jahreszeit in Verbindung brachte. Ein für ihn typisches Sommergeräusch.
    Er gähnte und reckte sich.
    „Magst du den Wald, Lina?“
    Sie wiegte den Kopf unbestimmt hin und her.
    „Und diese Stelle hier, magst du die?“
    „Ej.“
    „Dann tut es dir nicht leid, hergekommen zu sein?“
    „Ion.“
    „Weißt du, ganz weit da oben gibt es eine Flugschneise. Dauernd kommen Maschinen hier durch. Die fliegen in aller Herren Länder. Ich schaue ihnen gerne nach. Wenn ich nicht Musiker werde, dann vielleicht Pilot … was heißt Musiker?“
    „Kirsoma.“
    „Und Pilot?“
    „Lutpo.“
    „Lupo? Wie Wolf?“
    „Ion. Lut-po.“
    „Lutpo … und du? Was willst du werden?“
    „Tonzoslopu.“
    „Na prima.“ Er grinste leicht resigniert zu ihr rüber, wusste aber gleichzeitig, dass man nicht zu viel erwarten durfte. Er stand auf. „Lass uns nach Hause gehen, bevor Marion und Thomas sich Sorgen machen.“ Er streckte Lina seine Hand hin und zog sie hoch.
    Sie ließ Nick den ganzen Heimweg nicht los.
    Seine Seelenstelle fülle sich mit Wärme und Kribbeln.
    Bevor Nick an diesem Abend zu Bett ging, notierte er:
    Ej – Ja
    Ion – Nein
    Kiden – Danke
    Dirbralongszwol – Zwillingsbruder
    Ritergo – Gitarre
    Glas – Lesg
    Sites – Tasse
    Kirsoma – Musiker
    Lutpo – Pilot.
    Lange verglich er die Worte wie bei einem dieser Rätsel, bei denen man Bilder miteinander vergleicht, um herauszufinden, wie sich das erste vom zweiten unterscheidet – nur suchte er nach Gemeinsamkeiten.
    Und er glaubte, eine entscheidende gefunden zu haben. Wenigstens so, wie er es herausgehört hatte. Nur eine Winzigkeit stimmte noch nicht, wohl eine Fehlinterpretation seinerseits, wie er dachte.
    Nick ging an den Anfang der Liste zurück. Er zögerte. Aber nur kurz. Dann fügte er einem Wort ein N hinzu, ein quasi stummes N: Aus Ion wurde Ionn. Vier Buchstaben, nicht drei. Vier Buchstaben, wie bei Nein.
    Jetzt besaß jedes der Idioglossie-Worte genau die gleiche Anzahl an Buchstaben wie sein Gegenstück. 2 – 4 – 5 – 15 – 7 – 4 – 5 – 7 — 5. Und das, war er sicher, ist ein ausschlaggebender Teil des Schlüssels. Darauf wette ich.
    Er gähnte. Morgen, vertröstete er sich, morgen ist auch noch ein Tag.
    Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen
    Heute war ich draußen, Jan. Ich meine, richtig draußen! Im Wald. Niemand hat mich erwischt.
    Er hat mich nicht erwischt – er war gar nicht da.
    Dank Nick dachte ich stundenlang nicht daran! Aber jetzt geht es wieder los.
    Ich habe es nie begriffen, Jan. Und anfangs kannte ich noch keine Worte für das, was er da machte, für das, was ich den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. In meinem Hirn läuft derselbe widerliche Clip auf Endlosschleife:
    Ich bin vier Jahre alt.
    Stehe im Bad. Vor dem Waschbecken. Die Augen wie blind auf den beschlagenen Spiegel darüber gerichtet. Die Ohren verschlossen gegen das Flüstern und Keuchen hinter meinem Rücken.
    Ich blende mich aus.
    Wenn ich den Wasserhahn aufdrehe, wie ich zufällig herausgefunden habe, und der Strahl ins Waschbecken rauscht, funktioniert das am besten.
    Mein Körper wird ein gefühlloser Kokon, meine Seele die erstarrte Puppe darin. Ich bewege mich nicht, höre auf zu atmen, halte den Schlag meines Herzens an, mein Pulsrasen und tue nichts.
    Nichts!
    Kleine Kinder veranstalten kein Geschrei. Sie sind gehorsam und tun, was ihnen gesagt wird. Auch wenn es nicht der richtige Vater ist, der sie baden will.
    Sie stellen sich nicht zickig an. Erst recht lügen sie nicht, sondern sind froh und dankbar, einen lieben Stiefvater zu haben. Einen, dem sie am Herze liegen. Der nett zu ihnen ist, sich um sie kümmert, alles für die Familie tut, als wäre es seine eigene. Und der zusätzliches Geld ins Haus bringt. – Wie Mama meint.
    Mama, die uns für unsere Geschichte verdroschen hat. Nicht nur einmal. Nicht zu knapp. Mit einem Schuh. Mit einem Holzkleiderbügel. Mit einem Gürtel.
    Erst dich, Jan.
    Dann mich.
    Das werde ich niemals verzeihen. Esd diwir cho melsnoi hinziovir!

12
    Wenn an einem Sonntagmorgen der Wind von Ost nach Süd wehte, konnte Nick im Mondzimmer ganz von Ferne das Läuten der Kirchturmglocken hören, die zur Messe riefen; so wie heute. Das bedeutete, dass es mindestens halb zehn

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