Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
es für Lina besser sei, wenn sie vorerst nicht in der Wohnung lebt, in der sie alles an Jan erinnert. Das ist ihr Zwillingsbruder, der nicht mehr nach Hause kam … Der Verlust ist zu schlimm für Lina.
Außerdem scheint sie aus irgendeinem Grund ihren Eltern die Schuld für Jans Verschwinden zu geben. Auf jeden Fall muss Lina zur Ruhe kommen, zu sich selbst finden, sagte der Psychologe. Deswegen gibt es vorläufig eine absolute Kontaktpause zu Frau Saizew und ihrem Freund. Und stell dir vor, Lina hat während der gesamten Begutachtung nicht aufgehört zu schreien. Obwohl sie ihr ein Beruhigungsmittel gegeben haben. Kannst du dir so was vorstellen?“
„Nicht wirklich.“
Nicks Mutter holte tief Luft, bevor sie wieder das Wort ergriff. „Sie haben das Jugendamt eingeschaltet, und die haben Marion und Thomas gebeten, sich um Lina zu kümmern. Als sie Lina abholten, hat sie noch immer geschrien. Marion sagt, es war das Schrecklichste, was sie je gehört hat. Es waren hohe, schrille Töne. Wie wenn Lina furchtbare Schmerzen hätte. Dann, von einem Augenblick zum anderen, war sie still. Seitdem ist sie bei Marion und Thomas auf dem Mühlenhof. Und seither hat sie keinen Ton mehr von sich gegeben.“
„Was soll das heißen? Ist sie verrückt geworden?“
„Nein, sie ist nicht verrückt geworden, Nicolas Ritter. Ich möchte nicht, dass du in dieser Weise über Lina redest“, wies seine Mutter ihn nicht unfreundlich zurecht. Dabei sprach sie seinen vollständigen Namen aus, wie sie es nur tat, wenn ihr eine Sache sehr ernst erschien.
„Okay. Tut mir leid. Ich habe es nicht böse gemeint. Ich kapier’ nur nicht, was das mit mir zu tun hat. Kann ich deshalb nicht zu Marion und Thomas?“
„Doch. Vorausgesetzt, du willst überhaupt hin, denn Lina wird ebenfalls da sein.“
Das war neu. Er hatte bisher keinen der Mühlenhof-Gäste kennengelernt, nie war jemand während seiner Besuche dort untergebracht gewesen. Aber selbst wenn: Es handelte sich bloß um Kinder und Teenager. Er war weder ihr Babysitter noch ihr Aufpasser und ihnen zu nichts verpflichtet. Notfalls könnte man sich einfach aus dem Weg gehen. Wo also war der Haken?
Vorsichtig fragte er: „Weshalb sollte ich nicht wollen?“
„Weil es eine schwierige Situation ist. Der Psychologe sagt, das Mädchen hat eine schreckliche Sache erlebt. Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann: Ein enges Familienmitglied ist spurlos verschwunden. Niemand hat etwas gesehen. Niemand etwas gehört. Jans Stiefvater sagt, Jan wollte nur sein Fahrrad in die Garage stellen und seitdem ist er weg. Es gibt keine Spur, die verrät, was geschehen ist.“
Sie holte abermals tief Luft und fuhr fort: „Nur ungefähr zwei Prozent aller vermissten Kinder tauchen nach gut vierzehn Tagen nicht wieder auf. Und Jan wird jetzt seit beinahe vier Wochen vermisst. Man muss nicht allzu gut in Mathe sein, um sich auszurechnen, was das bedeuten könnte. Seine Familie ist fix und fertig. Alles, was sie wissen wollen, ist, was passiert ist. Ob er noch lebt.“
Nick versuchte, sich das vorzustellen. Er schaffte es nicht. Er sah nur Bilder wie aus einem Thriller vor sich, in dem Kinder auf rätselhafte Weise verschwanden und entweder nie oder tot gefunden wurden. Geschrumpft, bleich, manchmal schrecklich verkrümmt. Mit Erde im Haar und auf den geschlossenen Lidern.
Umgebracht von einem Familienmitglied, einem Bekannten oder einem Fremden. Wie dieser Junge, Timo, den sie Anfang des Jahres nach fünf Monaten tot im Wald gefunden hatten. Den Namen und das Gesicht im Fernsehen würde Nick wohl lange nicht vergessen.
Es war das erste Mal gewesen, dass er den Fall eines vermissten Kindes bewusst wahrgenommen hatte. Wahrscheinlich, weil es in der näheren Umgebung passiert war. Es hatte ihm Angst gemacht, auch, weil seine Mutter ihn seither ständig ermahnte aufzupassen und …
„Nick?“ Das war sein Vater. „Ehrlich gesagt, wären wir froh, wenn du hinfahren würdest.“
„Wieso denn?“
„Marion glaubt, Lina braucht Freunde. Nein, mehr als das. Neue Freunde, verstehst du? Die nichts mit ihrem alten Leben zu tun haben, aus dem Jan verschwunden ist.“
Nicks Mutter spann den Faden weiter: „Es reicht schon einer. Ein einziger, besonderer Freund. Einer in ihrem Alter, bei dem sie lernt, wieder zu reden. Mit dem sie was unternehmen kann, mit dem sie vielleicht sogar ein bisschen lachen kann. Dem sie vertraut.“
„Jemand, dem sie sich möglicherweise anvertraut. Verstehst du?
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