Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
bin nicht wie Luki. Ich bin kein Stürmer, kein Angreifer. Ich bin auch nicht wie Marvin, der Nerven wie Drahtseile hat, wenn er ganz allein im Tor steht. Ich bin bloß in der Abwehr. Ich bin ein Innenverteidiger. Versteht ihr? Ich wehre die Gegner nur ab und bereite Angriffe höchstens vor. Ich will damit sagen, ich bin kein Crack.“
„Auf deine eigene, besonnene und abwägende Art bist du das. Und es ist genau das, was wir hier brauchen“, erklärte sein Vater. „Jemand, der noch Schlimmeres verhindert und eher bedächtig vorgeht.“
„Und wenn ich das nicht will?“
Ganz ruhig erwiderte seine Mutter: „Dann lässt du es bleiben. Niemand kann und wird dir das verübeln. Ganz bestimmt nicht. Jeder muss die Dinge so tun und lassen, wie es ihm gefällt. Außerdem bist du erst vierzehn Jahre alt.“
„Bald fünfzehn.“
„Ja. Bald.“
Er schaute seine Eltern an: Sein Vater Dirk war als Steuerberater in einer Kanzlei tätig. Nicks Mutter Michaela war Grundschullehrerin, weil der Lehrberuf angeblich Tradition in ihrer Familie war und sie gern mit Kindern arbeitete.
Nick hatte nie einen ernsthaften Streit zwischen ihnen mitbekommen und ihm gegenüber zeigten sie sich meist großzügig und verständnisvoll. Außerdem hatten sie bisher keines seiner Konzerte oder Fußballspiele versäumt.
Er fragte sich, was aus ihnen werden würde, wenn ihm, Nick, jemals etwas zustoßen würde. Und er fragte sich, ob es normal war, sich in seinem Alter solche Dinge zu fragen.
„Nick?“
Er schaute auf, direkt in die Augen seines Vaters.
„Ich überlege es mir“, antwortete er.
Und das tat er.
3
Nick verbrachte eine nachdenkliche halbe Stunde auf dem Klo, ohne zu lesen, was ihm jedoch nicht weiterhalf. Danach lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Schlafcouch und starrte die Decke an, als würde sich dort demnächst in Großbuchstaben ein guter Rat manifestieren.
Doch da war nur das bewegte Licht- und Schattenspiel der Sonnenstrahlen und Bäume.
Er verzichtete auf das nachmittägliche Daddeln an der Spielekonsole, weil er sich sowieso nicht hätte konzentrieren können. Und er verspürte auch keinen Bock zu chatten.
Ich meine, grübelte er, was kann ich für den ganzen Bockmist? Was habe ich mit der Sache zu tun?
Nichts, bereitwillig sprang ihm eine stichelnde Gedankenstimme bei. Rein gar nichts! Es ist wirklich nicht dein Problem.
Na also! Wie kam Marion nur auf diese saublöde Idee? Und seine Mutter?
Kei-ne Ah-nung!, echauffierte sich die Gedankenstimme mit einem Stöhnen. Mal ehrlich: Was verstehst du schon von Mädchen? – Aber Marion! Die war selbst mal eins. Und deine Mutter ebenfalls. Oder etwa nicht? Sollen die beiden sich selbst um diese Lina kümmern. Sollen sie doch versuchen, an sie heranzukommen.
Aber, dachte Nick, die Betonung liegt auf „sie waren“. Jetzt sind sie keine Mädchen mehr, sondern erwachsene Frauen.
„Aller Voraussicht nach hat ein Erwachsener ihre seelische Erschütterung verursacht, indem er ihr den Bruder genommen hat. Daher traut sie keinem von ihnen.“ Das hatte seine Mutter gesagt.
Diese Erschütterung, das schien im sicher, die rührt von einem Verbrechen her. Ganz klar. Entführung. Mindestens. Vielleicht mehr. Totschlag. Womöglich Mord.
Das Opfer, ein Junge.
Der Täter. Ein Mann?
Oder eine Frau?
Nick versuchte sich vorzustellen, wie es war, wenn man keinem Erwachsenen mehr traute. Nicht den Eltern und Großeltern, Tanten und Onkeln. Keinem Lehrer. Keinem Trainer. Nicht mal Gott, weil der ebenfalls erwachsen war.
Es gelang ihm nicht.
Er stand auf, ging hinaus auf die Terrasse, setzte sich in einen der Gartenstühle und dachte an das stumme Mädchen. An Lina Soundso, deren Zwillingsbruder spurlos verschwunden war.
Im Grunde, überlegte er, ist es bloß Zufall, dass ich als Nick und nicht als Jan geboren wurde. Dass Lina seine und nicht meine Schwester ist. Dass nicht ich, sondern er verschwunden ist. Purer Zufall. Glück! Sonst wäre ich es, nach dem die Hundertschaften Wälder und Felder absuchen und der möglicherweise schon längst …
Er hielt inne, wollte diesen Satz nicht zu Ende denken und war heilfroh, als seine Mutter nach ihm rief, weil sie mit ihm die Koffer fertig packen wollte. Aber der Gedanke hatte nach ihm gegriffen und ließ ihn nicht mehr aus den Fängen.
„Wann sollte ich eigentlich zu Marion und Thomas? Wie immer, in den letzten beiden Ferienwochen?“, wollte Nick wissen. Er stopfte seine Socken in den Koffer.
Weitere Kostenlose Bücher