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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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warf ich einen Blick auf meine Uhr. »In einer Stunde kommt Lynne zurück. Vorher musst du mir ein paar Fragen beantworten. Aber jetzt wasche ich mir erst mal das Gesicht.«
    »Warte!«, sagte er. »Ich verspreche dir, dass ich dich nicht anfassen werde, aber du musst wissen, dass das, was zwischen uns passiert ist, für mich … ich meine, es war …
    ich möchte nicht, dass jemand …« Er hielt inne und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der zugleich unterwürfig und ärgerlich wirkte. Jetzt hatte er Angst vor mir.

    Im Bad wusch ich mir die Hände und das Gesicht. Ich stellte fest, dass ich einen widerlichen Geschmack im Mund hatte, und putzte mir auch noch die Zähne. Dann betrachtete ich mich im Spiegel. Ich sah nicht anders aus als sonst. Wie war das möglich? Ich lächelte, und mein Spiegelbild lächelte fröhlich zurück.
    Mein Hass brannte nicht mehr so heiß wie noch vor ein paar Minuten. Ich fühlte mich zwar immer noch scheußlich, war aber schon viel ruhiger und gelassener.
    Auch Cameron wirkte nicht mehr so aufgeregt. Wir setzten uns einander gegenüber wie zwei Fremde.
    Inzwischen erschien es mir völlig absurd, dass er noch vor zwei Tagen meinen Kopf zwischen den Händen gehalten hatte, als wäre ich das Kostbarste auf der ganzen Welt.
    Dass er die Hände unter meine Klamotten geschoben und nach meinem nackten Körper getastet hatte. Der Gedanke ließ mich schaudern.
    »Wie hast du es herausgefunden?«, fragte er.
    »Nord-London ist klein«, antwortete ich. »Vor allem das reiche Nord-London. Ich habe das Kindermädchen kennen gelernt. Lena.« Er sagte nichts, sondern nickte nur leicht.
    »Sie hat mir von den Briefen erzählt. Und von dir. Seid ihr sicher, dass sie von derselben Person stammen?«
    Er sah mir nicht in die Augen. »Ja.«

    »Er hat ihr Briefe geschrieben wie den, den er mir geschickt hat, und dann hat er sie umgebracht?«
    »Ja.«
    »Habt ihr sie denn nicht beschützt?«
    »Ursprünglich schon. Es gab Faktoren, die die Situation verkomplizierten.«
    »Jedenfalls hat er es geschafft, ins Haus zu gelangen und sie zu ermorden.«
    »Zu dem Zeitpunkt haben wir sie nicht mehr richtig bewacht.«
    »Warum nicht? Habt ihr das Ganze nicht ernst genug genommen?«
    »Ganz im Gegenteil«, gab er ärgerlich zurück. »Wir haben es sogar sehr ernst genommen. Immerhin –« Er brach abrupt ab.
    »Was?«
    »Nichts.«
    »Was?«
    »Nadia, du musst mir wirklich glauben, dass wir alle nötigen Vorkehrungen getroffen haben, um dich zu beschützen.«
    »Was wolltest du sagen? Immerhin was? Sag es mir!«
    »Wir wussten, wie ernst die Briefe an Mrs. Hintlesham zu nehmen waren«, murmelte er so leise, dass ich mich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
    »Warum?« Er sah mich an, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Diese neue Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag. Ich starrte ihn an. »Sie war nicht die Erste, oder?« Meine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.
    Cameron schüttelte den Kopf.

    »Wer noch?«
    »Eine junge Frau namens Zoë Haratounian. Sie hat drüben in Holloway gewohnt.«
    »Wann?«
    »Vor fünf Wochen.«
    »Wie?«
    Cameron schüttelte wieder den Kopf. »Bitte, Nadia.
    Nicht. Wir passen auf dich auf. Vertrau uns.«
    Ich konnte ein hässliches Lachen nicht unterdrücken.
    »Ich weiß, wie du dich fühlst, Nadia.«
    Ich ließ den Kopf auf die Hände sinken. »Nein, das weißt du nicht«, gab ich zurück. »Du kannst gar nicht wissen, wie ich mich fühle. Wie solltest du auch?«
    »Was wirst du jetzt tun?«
    Ich hob den Kopf und starrte ihn an. Er wollte wissen, ob ich ihn hinhängen würde. Was für ein Kind! Ein grausames, eitles Kind.
    »Ich werde leben«, antwortete ich.
    »Natürlich wirst du das.« Seine Stimme klang beschwichtigend und honigsüß. Er sprach mit mir wie ein Arzt mit einem sterbenden Patienten.
    »Du glaubst, dass ich sterben werde, oder?«
    »Unsinn!«, widersprach er. »Auf keinen Fall.«
    »Ein Wahnsinniger«, sagte ich. Ich spürte die Angst wie Galle in meinem Mund. »Ein Killer.«
    Es klingelte an der Tür. Die errötende, lächelnde, lügende Lynne. Leise sagte Cameron zu mir: »Bitte, erzähl niemandem was von uns.«
    »Lass mich in Ruhe! Ich muss nachdenken.«

    11. KAPITEL
    uf eine perverse Weise genoss ich es fast, mir Lynne vorzuknöpfen. Sie hatte vers
    A
    ucht, Cameron ein paar
    technische Fragen zum Ablauf der kommenden Woche zu stellen, aber er war kaum in der Lage, etwas zu sagen oder ihrem Blick standzuhalten – geschweige

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