Der Sommermörder
fehlten einfach die Worte.
»Ich … ihr habt sie auch belogen«, war alles, was ich schließlich herausbrachte.
»So war das nicht«, widersprach Lynne, die meinem Blick noch immer auswich. »Diese Entscheidung wurde schon ganz zu Anfang getroffen. Man war der Meinung, dass es schlecht sei, Sie in Panik zu versetzen.«
»Und sie auch. Ich meine Jennifer.«
»Ja«.
»Lassen Sie uns klarstellen, dass ich Sie da richtig verstanden habe: Jennifer hat nicht gewusst, dass die Person, von der die Briefe stammten, bereits jemanden umgebracht hatte, richtig?«
Lynne reagierte nicht.
»Und deshalb konnte sie im Hinblick auf ihren Schutz auch keine Vorkehrungen treffen.«
»So war das nicht«, erklärte Lynne erneut.
»Inwiefern war das nicht so?«
»Das Ganze war nicht meine Idee«, antwortete Lynne,
»aber ich weiß, dass diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben, nur Jennifers Bestes wollten – oder was sie für ihr Bestes hielten.«
»Die Strategie, die ihr im Fall von Jennifer verfolgt habt
– und auch im Fall der ersten Frau, Zoë – war nicht besonders erfolgreich.« Ich nahm einen großen Schluck von meinem Whisky und musste prompt husten. So harte Sachen trank ich sonst nicht. Ich fühlte mich so erbärmlich, krank vor Angst. »Es tut mir Leid, Lynne, ich bin sicher, dass das alles schrecklich für Sie ist, aber für mich ist es noch schrecklicher. Es ist mein Leben. Ich bin diejenige, die sterben soll.«
Sie trat einen Schritt näher. »Sie werden nicht sterben.«
Ich wich zurück. Ich wollte nicht, dass diese Leute mich berührten. Auf ihr Mitgefühl konnte ich verzichten.
»Ich verstehe das nicht, Lynne. Sie sitzen nun schon seit Tagen hier bei mir herum. Sie haben mit mir Tee getrunken und gegessen. Ich habe Ihnen von meinem Leben erzählt. Sie haben mich barfuß gesehen, auf meine Couch gelümmelt, halb nackt in der Wohnung herumlaufend. Ihnen war bewusst, dass ich Ihnen geglaubt, Ihnen vertraut habe. Ich verstehe das einfach nicht. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«
Lynne gab mir keine Antwort. Ich schwieg ebenfalls eine Weile. Nachdenklich griff ich nach meinem Whiskyglas und nippte daran.
»Halten Sie mich eigentlich für blöd?«, fragte ich. »Ich habe wirklich ein Problem damit, dass alle etwas über mich wissen, das ich nicht weiß. Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn es dabei um Sie ginge?«
»Keine Ahnung.«
Ich nahm einen weiteren Schluck. Allmählich spürte ich den Alkohol. Ich habe bei aller Art von Drogen eine erstaunlich niedrige Toleranzschwelle. Ich fürchte, der Grund ist nicht, dass mein Körper so sensibel reagiert, sondern dass ich einfach ein bisschen weich in der Birne bin. Es fiel mir immer schwerer, meine Wut zu konservieren, auch wenn die Angst irgendwo tief in mir weiterbohrte. Ich spürte den Alkohol im ganzen Körper und auch außerhalb davon, sodass mir die Welt im goldenen Licht dieses Sommerabends mitten in Nord-London immer weicher und verschwommener erschien.
»Haben Sie auf die Erste auch aufgepasst?«
»Zoë? Nein. Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet.
Kurz bevor … nun ja …«
»Und Jennifer?«
»Ja. Mit ihr habe ich einige Zeit verbracht.«
»Wie waren die beiden? Waren sie wie ich?«
Lynne trank ihren Tee aus. »Es tut mir Leid«, sagte sie.
»Es tut mir Leid, dass man Ihnen das alles verschwiegen hat. Trotzdem ist es mir strikt verboten, derartige Details an Sie weiterzugeben.«
»Verstehen Sie denn nicht?« Meine Stimme klang jetzt ziemlich bitter. »Ich bin diesen beiden Frauen nie begegnet. Ich weiß nicht mal, wie sie ausgesehen haben, aber ich habe etwas ganz Entscheidendes mit ihnen gemeinsam. Ich würde gern etwas über sie erfahren.
Vielleicht hilft uns das weiter.«
Lynnes Miene wirkte jetzt verschlossen. »Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, müssen Sie sich damit an DCI Links wenden. Ich bin nicht berechtigt, Auskünfte zu geben.« Ein Anflug menschlicher Anteilnahme huschte über ihr Gesicht. »Hören Sie, Nadia, ich bin da wirklich nicht die richtige Ansprechpartnerin. Ich habe die Akten zu dem Fall nicht eingesehen. Was das betrifft, bin ich nur eine Randfigur, genau wie Sie.«
»Ich bin keine Randfigur«, widersprach ich. »Ich wünschte, ich wäre es, aber leider stecke ich in dem schwarzen Loch direkt in der Mitte. Dann können Sie mir also nichts weiter sagen? Sie wollen, dass ich Ihnen einfach glaube und darauf vertraue, dass Sie Ihren Job diesmal besser machen?«
Zum Teufel mit ihr,
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