Der Sommermörder
weil die Polizei inzwischen – hoffentlich – eine Verbindung zu den beiden anderen Frauen festgestellt hätte. Im Grunde aber könnte es jeder sein: ein enger Freund, jemand, den Sie nur ein einziges Mal getroffen und sofort wieder vergessen haben, oder jemand, den Sie gar nicht kennen und der bloß Sie ein einziges Mal gesehen hat.«
Ich blickte mich um und war froh, dass ich mich dafür entschieden hatte, mich an einem sonnigen Morgen mit ihr zu treffen, an einem Ort, wo Kinder um uns herumliefen.
»Im Schlaf wird er mich jedenfalls nicht überraschen«, erklärte ich. »Im Moment bekomme ich nämlich kein Auge zu. Immer wenn ich es versuche, sehe ich das Foto von Jenny Hintlesham vor mir, wie sie tot daliegt, mit …
Nun, ich bin sicher, Sie haben es auch gesehen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass es in meinem Bekanntenkreis jemanden geben könnte, der herumläuft und ein normales Leben führt, nachdem er so etwas getan hat.«
Grace ließ einen ihrer langen, schlanken Finger über den Rand der Kaffeetasse gleiten. »Der Kerl ist extrem durchorganisiert. Denken Sie nur an die Briefe und die Mühe, die er sich gemacht hat, um sie seinen Opfern zukommen zu lassen.«
»Ich kann noch immer nicht fassen, dass es der Polizei nicht gelungen ist, diese Frauen zu beschützen, obwohl er doch angekündigt hatte, was er ihnen antun wollte.«
Grace nickte heftig. »Ich habe in letzter Zeit ein bisschen recherchiert. Es hat in der Vergangenheit eine Reihe derartiger Fälle gegeben. Einen davon vor ein paar Jahren in Washington DC. Ein Mann schrieb Briefe an Frauen, in denen er explizite Morddrohungen aussprach. Der Ehemann der ersten Frau heuerte bewaffnete Leibwächter an. Trotzdem wurde sie in ihrem eigenen Haus ermordet.
Die zweite Frau wurde rund um die Uhr von der Polizei bewacht und während dieser Zeit in ihrem Schlafzimmer gefoltert und ermordet, und das, obwohl sich ihr Mann ebenfalls im Haus aufhielt. Ich erzähle Ihnen das nur ungern, aber Sie wollten, dass ich ehrlich zu Ihnen bin.
Manche dieser Männer betrachten sich als Genies. Was sie aber nicht sind. Sie ähneln eher Menschen, die eine Leidenschaft für ein bestimmtes Hobby haben. Was sie auszeichnet, ist ihre starke Motivation. Sie haben den Wunsch, Frauen leiden zu sehen und dann zu töten, und sie verwenden ihre ganze Energie, Phantasie und Intelligenz darauf, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen.
Die Polizei tut ihr Bestes, aber es ist schwer, gegen eine solche Zielstrebigkeit anzukommen.«
»Was ist mit dem Washingtoner Mörder passiert?«
»Sie haben ihn schließlich am Tatort gefasst.«
»Konnte die Frau noch gerettet werden?«
Grace wandte den Blick ab. »Das weiß ich nicht mehr«, antwortete sie. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir es hier nicht mit einem Psychopathen zu tun haben, der unter einer Brücke in einer Pappschachtel haust. Wahrscheinlich verhält er sich in diesem Moment wie ein ganz normales Mitglied der Gesellschaft. Ted Bundy kehrte nach Hause zurück, nachdem er zwei voneinander unabhängige Morde begangen hatte, und wirkte seiner Freundin zufolge nicht einmal müde.«
»Wer ist Ted Bundy?«
»Ein weiterer Frauenmörder.«
»Aber warum machen sich diese Männer so viel Mühe?
Warum lauern sie ihren Opfern nicht einfach in einer dunklen Gasse auf?«
»Die Mühe ist ein Teil des Vergnügens. Damit will ich sagen, Nadia, dass Sie hinsichtlich seines Charakters und seiner Motive alle Ihre normalen, auf gesundem Menschenverstand basierenden Vorstellungen aufgeben müssen. Er hat es nicht auf Ihr Geld abgesehen. Er empfindet nicht einmal Hass auf sie. Zumindest wird er es nicht so sehen. Vielleicht hält er seine Gefühle eher für Liebe. Denken Sie an die Briefe, die er schreibt: Auf eine perverse Weise handelt es sich dabei um Liebesbriefe. Er entwickelt eine Obsession für die Frauen, die er sich aussucht.«
»Sie meinen, er ist der Typ, der gern Züge beobachtet, und ich bin der Zug.«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Aber warum? Ich verstehe einfach nicht, warum er all diese Anstrengungen unternimmt, Briefe schreibt, eine Zeichnung anfertigt, ein unglaubliches Risiko eingeht, indem er die Briefe zum Teil persönlich durch den Briefschlitz wirft, und seine Opfer, die alle ganz normale Frauen sind, am Ende dann auf so bestialische Weise umbringt. Warum?«
Ich sah Grace in die Augen. Ihr Gesicht wirkte jetzt völlig ausdruckslos, fast wie eine Maske.
»Sie meinen, weil so schreckliche Dinge passieren,
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