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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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müsste es dafür auch besondere Motive geben.
    Irgendwann wird dieser Mensch hinter Schloss und Riegel sein, und jemand – vielleicht sogar ich – wird mit ihm über sein Leben reden. Vielleicht wurde er als Kind brutal geschlagen oder von einem Onkel missbraucht oder erlitt eine Kopfverletzung, die eine Schädigung des Gehirns zur Folge hatte. Irgendetwas Derartiges wird der Grund sein.

    Natürlich gibt es viele Leute, die als Kind misshandelt oder missbraucht wurden, die aber nicht zu psychopathischen Sexualverbrechern heranwuchsen. Es ist einfach etwas, das er gern tut. Warum tun wir gern, was wir gern tun?«
    »Was, glauben Sie, wird passieren?«
    Sie zündete sich eine neue Zigarette an.
    »Seine Brutalität eskaliert«, antwortete sie. »Sie steigert sich. Beim ersten Mord ist er vergleichsweise zahm vorgegangen. Wahrscheinlich hat er ihr dabei nicht mal ins Gesicht gesehen, sie gar nicht so sehr als Individuum betrachtet. Der zweite war wesentlich brutaler, wesentlich aggressiver. Das ist ein typisches Muster. Die Verbrechen werden immer grausamer und unkontrollierter. Bis der Täter schließlich gefasst wird.«
    Plötzlich war mir, als hätte sich eine schwarze Wolke vor die Sonne geschoben. Ich blickte hoch, doch da war keine Wolke. Der Himmel leuchtete strahlend blau.
    »Die übernächste Person, die er sich aussucht, könnte davon vielleicht schon profitieren«, stellte ich bitter fest.
    Wir standen auf. Ich sah mich nach Lynne um, aber sie wich meinem Blick aus. Ich wandte mich wieder zu Grace. »Was für ein Gefühl haben Sie, wenn Sie an die letzten zwei Monate denken?«, fragte ich. »Sind Sie zufrieden mit der Art, wie Sie die Ermittlungen geführt haben?«
    Sie griff nach ihrer Sonnenbrille, den Schlüsseln und der Zigarettenpackung. »Eigentlich habe ich mit dem Rauchen längst aufgehört. Wann war das noch mal? – Vor fünf Jahren, glaube ich. Seit Wochen zermartere ich mir immer wieder das Gehirn und frage mich, was ich hätte anders machen können. Vielleicht werde ich es wissen, wenn er gefasst ist.« Sie warf mir einen wehmütigen Blick zu.

    »Keine Angst. Ich bitte Sie nicht um Verständnis.« Sie zog etwas aus ihrer Tasche und hielt es mir hin. Es war eine Visitenkarte. »Sie können mich jederzeit anrufen.«
    Ich nahm sie entgegen und betrachtete sie mit dem oberflächlichen, höflichen Interesse, mit dem man solche Karten in der Regel in Empfang nimmt. »Ich glaube nicht, dass Sie es schaffen werden, rechtzeitig da zu sein«, antwortete ich.

    15. KAPITEL
    ls ich am College war, wo man ja eigentlich lernen sollte, wie m
    A
    an der wirklichen Welt auf eine
    erwachsene Weise begegnet, hatte ich eine Freundin, die an Leukämie starb. Sie hieß Laura, hatte winzige Füße und rosige Apfelwangen. Sie wurde im ersten Studienjahr krank und schaffte es nicht mehr, ihre Abschlussprüfung zu machen. Nach ihrem Tod gewöhnten wir uns erschreckend schnell an die Tatsache, dass sie nicht mehr bei uns war, und erinnerten uns nur noch hin und wieder aus Scham oder Sentimentalität an sie. In meiner jetzigen Situation aber dachte ich sehr viel an Laura. Auf eine seltsame Weise und eigentlich gegen meinen Willen fühlte ich mich ihr – und auch Jenny und Zoë, zwei Frauen, denen ich nie begegnet war – viel näher als meinen lebenden Freunden.
    Sogar Zach und Janet waren mir irgendwie fremd geworden. Sie waren entsetzt über das, was mir passierte, aber zugleich auch peinlich berührt. Sie riefen mich häufig an, aber schauten nicht oft genug vorbei, und wenn wir uns doch einmal trafen, gab es nichts, worüber wir richtig reden konnten, weil ich mich im Schatten befand und sie sich in der Sonne. Wir konnten nicht mehr so locker wie früher miteinander umgehen. Es war, als wäre ich ihnen vorausgegangen – an einen Ort, an den sie mir nicht folgen konnten und den ich nicht mehr in der Lage war zu verlassen. Mit einem Schaudern musste ich daran denken, dass Laura etwas ganz Ähnliches gesagt hatte, als es schließlich dem Ende zuging und für uns alle offensichtlich war, dass sie es nicht schaffen würde. Sie hatte gesagt – oder eher geschrien –, dass es ihr vorkomme, als säße sie in einem Wartezimmer und die Tür auf der anderen Seite würde sich bald für sie öffnen.
    Ich konnte mich noch gut an das Entsetzen erinnern, das ich bei ihren Worten empfunden hatte. Ich stellte mir vor, dass es jenseits der Tür stockfinster wäre und sie gezwungen sein würde, aus einem erleuchteten Raum in eine

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