Der Sommermörder
Wasser, ohne auf Lynnes mitfühlenden, wenn auch etwas vorwurfsvollen Gesichtsausdruck zu achten. Dann machte ich mir eine große Kanne Tee und kehrte damit in mein Schlafzimmer zurück, wo ich mich, bekleidet mit einer Jogginghose und einer schäbigen grauen Weste, im Schneidersitz auf meinen Bett niederließ und mich in der Tür meines Spiegelschranks betrachtete. Neuerdings widmete ich meinem Spiegelbild viel mehr Aufmerksamkeit als früher, wahrscheinlich, weil ich mich und meinen Körper nicht mehr einfach als gegeben betrachtete. Hätte ich inzwischen nicht anders aussehen müssen, dünner und mitgenommener? So weit ich das beurteilen konnte, hatte ich mich rein äußerlich überhaupt nicht verändert. Das war Nadia, wie man sie kannte: Sommersprossen auf der Nase, ungekämmt, total verkatert.
Es klingelte. Ich hörte Lynne zur Tür gehen. Obwohl ich die Ohren spitzte, drangen nur ein paar gemurmelte Worte zu mir herein. Dann klopfte es an der Schlafzimmertür.
»Ja?«
»Da ist jemand, der Sie sprechen möchte.«
»Wer?«
Auf der anderen Seite der Tür zögerte Lynne für den Bruchteil einer Sekunde.
»Josh Hintlesham.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leiser hinzu: »Jennys Sohn.«
»O mein Gott! Augenblick!« Ich sprang aus dem Bett.
»Bitten Sie ihn herein.«
»Sind Sie sicher? Ich weiß nicht, was Links davon –«
»Ich brauche bloß eine Minute.«
Ich stürzte ins Bad, schluckte drei Tabletten gegen meine Kopfschmerzen, klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht und putzte mir hektisch die Zähne. Josh. Der Junge auf dem Fensterbrett, der mit der pubertären Akne und Jennys dunklen Augen.
Ich ging ins Wohnzimmer und streckte ihm die Hand entgegen. »Josh, hallo.«
Seine Hand hing kalt und schlaff in meiner. Er wich meinem Blick aus, murmelte etwas und starrte auf den Boden.
»Wären Sie so nett, draußen im Wagen zu warten, Lynne?«, fragte ich.
Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, warf sie uns über die Schulter einen besorgten Blick zu. Josh trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er trug einen Jogginganzug, der ihm ein bisschen zu klein war, und sein fettiges Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Er hätte jemanden gebraucht, der mit ihm einkaufen ging und ihn aufforderte, hin und wieder mal ein Bad zu nehmen, sich die Haare zu waschen und ein Deo zu benutzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gloria das tun würde.
»Kaffee oder Tee?«, fragte ich.
»Nichts, Danke schön.« Seine Stimme war nur ein Murmeln.
»Saft?« Ein bisschen zu spät fiel mir ein, dass ich gar keinen im Kühlschrank hatte.
»Nein, danke.«
»Setz dich.«
Ich deutete auf das Sofa.
Verlegen nahm er ganz vorn auf der Kante Platz, während ich ein paar Kaffeebohnen mahlte und wartete, bis das Wasser kochte. Mir fiel auf, wie groß seine Hände und Füße waren und was für knochige Handgelenke er hatte. Sein Gesicht wirkte blass, aber die Ränder seiner Augen waren rot. Ich hatte das Gefühl, dass er ziemlich am Ende war. Allerdings hatte ich schon seit zehn Jahren mit keinem Jungen im Teenageralter mehr zu tun gehabt.
Jungs über neun waren für mich ein Buch mit sieben Siegeln.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Ich habe in den Gelben Seiten unter ›Entertainer‹
nachgesehen. Christo hat mir gesagt, dass Sie Clown sind.«
»Ganz schön clever.« Ich nahm meine Kaffeetasse und ließ mich ihm gegenüber nieder. »Hör zu, Josh, das mit deiner Mutter tut mir sehr Leid.«
Er nickte achselzuckend. »Ja.«
Mister Cool.
»Bestimmt fehlt sie dir.«
Gott, warum konnte ich nicht einfach den Mund halten?
Er zuckte zusammen und fing an, auf einem Fingernagel herumzukauen. »Sie hatte nicht viel Zeit für mich«, erklärte er. »Sie war immer in Eile oder wegen irgendwas genervt.«
Ich hatte das Gefühl, ein gutes Wort für sie einlegen zu müssen.
»Ich nehme an, drei Kinder und ein Haus sind ganz schön stressig«, sagte ich und tat so, als würde ich einen Schluck aus meiner Tasse nehmen, obwohl sie schon leer war. Nadia, die Hobby-Therapeutin. »Hast du jemanden, mit dem du über das alles reden kannst?«, fragte ich ihn.
»Freunde oder einen Arzt oder so was?«
»Ich komme schon klar«, antwortete er.
Dann saßen wir eine Weile da, ohne etwas zu sagen. Um das Schweigen zu überbrücken, schenkte ich mir noch eine Tasse Kaffee ein.
»Und Sie?«, fragte er plötzlich.
»Ich?«
»Haben Sie Angst?«
»Ich versuche, optimistisch zu sein.«
»Ich träume dauernd von ihr«, sagte er. »Jede
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