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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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tiefe, gähnende Schwärze hinauszutreten.
    Laura hatte alle Stadien durchlaufen, die man angeblich durchläuft, wenn man dem Tod ins Auge blickt: Fassungslosigkeit, Wut, Trauer, Entsetzen, Resignation und schließlich eine Art von Akzeptanz – vielleicht, weil die vielen Behandlungen und das ewige Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung sie so erschöpft hatten. Nachdem sie gestorben war, führten ein paar von uns eines Abends ein unschönes – durch zu viel Alkohol noch zusätzlich angeheiztes – Streitgespräch darüber, ob sie vielleicht überleben oder zumindest länger leben hätte können, wenn sie stärker gegen die Krankheit angekämpft hätte, statt irgendwann einfach aufzugeben und loszulassen. In der Vergangenheit hatte ich mir dieses Loslassen immer so vorgestellt, dass eine Hand sich sanft aus der Hand eines geliebten Menschen löst. Nun, nachdem ich die Fotos gesehen und die Berichte zu den beiden anderen Fällen gelesen hatte, sah ich vor meinem geistigen Auge eher zwei Hände, die sich an einen Mauervorsprung klammern, bis ein schwerer Stiefel sie mit roher Gewalt zum Loslassen zwingt. Damals hatte jemand gemeint, Laura hätte stärker dagegen ankämpfen müssen – als ob Lauras Sterben ihre eigene Schuld gewesen wäre und nicht bloß ein grausamer Schlag des Schicksals.
    Ich würde dagegen ankämpfen. Ich wusste nicht, ob es auch nur den geringsten Unterschied machen würde, aber darum ging es gar nicht. Ich wollte bloß nicht starr vor Entsetzen in einem gottverdammten Wartezimmer kauern, ständig auf die gegenüberliegende Tür starren und dabei jene lähmende Angst empfinden, die ich in den letzten Tagen gefühlt hatte und die ständig mein Herz zum Rasen, meinen Mund zum Austrocknen und meinen Magen zum Revoltieren brachte. Ich hatte die Fotos gesehen, die Berichte gelesen und mit Grace gesprochen. Ich setzte nicht viel Vertrauen in Links und Cameron, was teilweise wohl daran lag, dass sie selbst nicht an ihre Fähigkeiten zu glauben schienen und im Grunde mit meinem baldigen Tod rechneten, auch wenn sie es nie zugaben. Ich war also auf mich allein gestellt, konnte mich nur noch auf mich selbst verlassen. Und wenn ich etwas hasse, dann ist es Warten.

    Eines stand fest: Ich durfte nicht länger in meiner Wohnung herumsitzen und mich vor Lynne und meiner eigenen Angst verstecken. Das Seltsame war, dass Lynne und ich noch immer nicht über meinen möglichen Tod sprachen. Das war zwischen uns ein absolutes Tabuthema.
    Wir redeten nur über Terminpläne und Fragen, die den täglichen Ablauf betrafen, beispielsweise, wo ich als Nächstes hinwollte und wo sie auf mich warten sollte. Wir nahmen auch unsere Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam ein. Es kam nicht einmal mehr vor, dass wir uns irgendwo Pommes mitnahmen oder zusammen eine Scheibe Toast zum Frühstück aßen. Ich hatte aufgehört, sie wie eine Art Gast oder Freundin zu behandeln.
    Am Tag nach meinem Treffen mit Grace Schilling ging ich mit Claire zum Schlittschuhlaufen. Claire war Schauspielerin, hatte zurzeit aber kein Engagement. Sie konnte rückwärts fahren und Pirouetten drehen, bei denen einem schon vom bloßen Zusehen schwindlig wurde.
    Lynne und eine weitere Polizistin saßen missmutig am Rand und sahen zu, wie ich in kleine Kinder krachte und sie wie Kegel zum Umkippen brachte oder wild mit den Armen rudernd über meine eigenen Beine fiel. Am Abend desselben Tages lud ich mich bei Zach ein und bat ihn, noch ein paar andere Freunde dazuzubitten, was er auch tat. Lynne wartete draußen, während wir uns mit Tacos voll stopften und ich so viel Rotwein trank, dass ich irgendwann anfing, laute und blöde Witze zu reißen und um zwei Uhr morgens sturzbetrunken in den wartenden Wagen fiel. Die ganze Zeit über – selbst dann, als ich mich mit Alkohol zudröhnte und mit einem Mann namens Terence flirtete, der ganz offensichtlich schwul war und meine Annäherungsversuche höchst peinlich fand –, versuchte ich darüber nachzudenken, was ich als Nächstes tun sollte. Grace hatte gesagt, dass Menschen wie dieser Mann allen anderen immer ein paar Schritte voraus sind: zielgerichteter, entschlossener, beharrlicher. Ich wollte versuchen, noch einen Schritt schneller zu sein als er.
    Am nächsten Morgen erwachte ich mit starken Kopfschmerzen und einem trockenen Mund. Mir war leicht übel, und als ich die Vorhänge aufzog, hatte ich das Gefühl, als würden meine Augen von Pfeilen durchbohrt.
    Ich wankte in die Küche und trank zwei Gläser

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