Der Sommermörder
sie?«
»Vielleicht hat Stadler sie irgendwo gesehen.«
»Das könnte man über jeden sagen. Die Polizeitheorie basierte auf der Voraussetzung, dass sie mit allen betroffenen Frauen zu tun hatten.«
Mir wurde vor Enttäuschung ganz übel. »Es war alles ein Irrtum«, stellte ich niedergeschlagen fest. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«
Morris beugte sich zu mir herüber und berührte meinen Arm.
»Bleib doch noch ein bisschen!«, bat er. »Wenigstens ein halbes Stündchen, Nadia.«
»Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein«, fuhr ich mit matter Stimme fort. »So eine schöne Theorie!
Es fällt mir richtig schwer, sie aufzugeben.«
»Zurück zum Heuhaufen!«, sagte Morris. Er lächelte mich an, als wäre das wahnsinnig komisch. Seine Zähne blitzten, seine Augen, sein ganzes Gesicht strahlten.
»Weißt du, was?«
»Was?«, sagte er.
»Es ist mir immer irgendwie seltsam vorgekommen, dass ich Zoë und Jenny nie begegnet bin. Das ist jetzt ganz anders. Manchmal sehe ich uns als Schwestern, aber immer häufiger habe ich das Gefühl, dass wir in Wirklichkeit ein und dieselbe Person sind. Wir haben alle drei die gleichen Erfahrungen gemacht. Wir haben nachts mit den gleichen Ängsten wach gelegen. Und bald werden wir auch die gleiche Todesart gemeinsam haben.«
Morris schüttelte den Kopf. »Nadia …«
»Schhh!«, sagte ich wie zu einem kleinen Kind.
Inzwischen führte ich eher ein Selbstgespräch und wollte in meinen Gedanken nicht gestört werden. »Als ich mir mit Louise – Zoës Freundin – die Wohnung angesehen habe, war das ein ganz erstaunliches Gefühl. Es kam mir fast vor, als wäre sie schon immer meine beste Freundin gewesen. Als würden wir uns schon lange kennen.
Wirklich eigenartig. Sie hat mir erzählt, wie sie an Zoës letztem Nachmittag einen Einkaufsbummel mit ihr gemacht hat, und mir war dabei so, als würde sie von einer Shoppingtour reden, die wir gemeinsam unternommen hatten. Sie hat es auch so empfunden, das habe ich ihr angemerkt.«
In dem Moment hob sich ganz plötzlich der Nebel, und die Landschaft lag vor mir – kalt und gnadenlos, im gleißenden Sonnenlicht, sodass ich alles klar und deutlich sehen konnte. Es bestand kein Zweifel. Seit ich die Akte der Spurensicherung eingesehen hatte, war ich sie im Geist immer wieder durchgegangen.
»Was ist?«, fragte er.
Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich hatte fast vergessen, dass Morris noch da war. »Was?«
»Du wirkst so abwesend. Woran hast du gerade gedacht?«
»Ich musste gerade daran denken, dass Zoë, als sie getötet wurde, ein T-Shirt trug, das sie gerade erst mit Louise gekauft hatte. Seltsam, findest du nicht?«
»Ich weiß nicht. Sag mir, was daran seltsam ist, Nadia.
Sag es mir.«
»Schade um das schöne neue T-Shirt«, meinte ich nur.
Morris starrte mich an, als versuchte er, in meinen Kopf hineinzusehen. Ob er wohl dachte, dass ich langsam verrückt wurde? Hoffentlich. Ich beugte mich über den Tisch und griff nach seiner Hand. Sie fühlte sich heiß und feucht an. Meine war kühl und trocken. Ich nahm seine Rechte zwischen meine beiden Hände und drückte sie.
»Morris«, sagte ich. »Hättest du vielleicht eine Tasse Tee für mich?«
»Ja, natürlich, Nadia.« Er lächelte übers ganze Gesicht.
Er konnte gar nicht mehr aufhören.
Nachdem er den Raum verlassen hatte, warf ich einen Blick zur Wohnungstür, an der mehrere Riegel und Knaufe angebracht waren. Von dort aus waren es fünfzig oder sechzig Meter auf der menschenleeren Gasse bis zur Hauptstraße. Ich stand auf und trat erneut an die Korkpinnwand.
»Kann ich dir helfen?«, rief ich.
»Nein!«, antwortete er aus der Küche.
Ich sah mir die Pinnwand genauer an. Darunter stand ein Schreibtisch mit mehreren Schubladen. So leise ich konnte, zog ich die oberste auf. Scheckbücher, Rechnungen. Ich öffnete die zweite. Postkarten. Die dritte.
Kataloge. Die vierte. Ein Stapel Fotos. Ich nahm ein paar heraus. Obwohl ich in etwa wusste, was mich erwartete, bekam ich vor Entsetzen eine Gänsehaut. Morris, ein paar Leute, die ich nicht kannte, und Fred. Morris und Cath und Fred. Morris, ein unbekanntes Gesicht und Fred. Ich schob eines der Fotos in die Potasche meiner Jeans. Vielleicht würde es an meiner Leiche gefunden werden. Ich schloss die Schublade und setzte mich wieder an den Tisch. Dann blickte ich mich suchend um. Das war meine einzige Chance. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
Nein, das stimmt nicht: Ich versuchte ihn
Weitere Kostenlose Bücher