Der Sommermörder
Teebeutel zu schütten, als eine Stimme »Nadia« sagte, die mich mitten in der Bewegung innehalten ließ. »Nadia, hier ist Grace. Grace Schilling.« Pause. »Nadia, wenn Sie da sind, dann gehen Sie doch bitte ran!« Dann: »Bitte, Nadia!
Es ist wichtig!«
Ich nahm den Hörer ab. »Hallo, ich bin zu Hause.«
»Danke. Hören Sie, können wir uns treffen? Ich muss Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.«
»Können Sie mir das nicht jetzt gleich sagen?«
»Nein. Ich muss Sie unbedingt sehen.«
»Ist es wirklich wichtig?«
»Ich glaube schon. Können wir uns in, sagen wir mal, fünfundvierzig Minuten bei Ihnen in der Wohnung treffen?«
»Nein, nicht hier, im ›The Heath‹.«
»Gut, ich werde um zehn Uhr da sein, am Pavillon.«
»Gut.«
Ich war früh dran, aber sie wartete schon auf mich.
Obwohl es ein warmer Morgen war, hatte sie sich in einen langen Mantel gehüllt, als wäre bereits Winter. Sie trug ihr Haar streng nach hinten gekämmt, was ihr Gesicht seltsam flach, älter und müder aussehen ließ, als ich es in Erinnerung hatte. Nach einem förmlichen Händedruck wanderten wir den Hügel hinauf, wo ein einzelner Mann einen großen roten Drachen steigen ließ, der flatternd und knatternd an der Leine zerrte.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie. Ich zuckte nur mit den Achseln. Ich wollte mit ihr nicht über meinen psychischen Zustand reden.
»Was haben Sie auf dem Herzen?«
Sie nahm eine Schachtel Zigaretten heraus, zündete sich hinter vorgehaltener Hand eine an und nahm einen tiefen Zug. Dann sah sie mich mit ihren grauen Augen ruhig an.
»Es tut mir Leid, Nadia.«
»Ist das die wichtige Sache, die Sie mir sagen wollten?«
»Ja.«
»O je!« Ich kickte einen Stein aus dem Pfad und verfolgte seinen Weg durch das Gras. »Und was wollen Sie jetzt von mir hören?«
Sie runzelte die Stirn, gab mir aber keine Antwort.
»Wollen Sie, dass ich Ihnen die Absolution erteile oder so was in der Art?«, fragte ich neugierig. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Nicht ich bin tot, sondern die beiden anderen.«
Sie zuckte zusammen. »Ich kann Sie nicht einfach in den Arm nehmen und sagen: ›Ist ja gut!‹«
Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, als müsste sie einen Insektenschwarm verscheuchen.
»Das erwarte ich auch gar nicht. Ich wollte nur, dass Sie wissen, dass es mir wirklich Leid tut.«
»Haben die anderen Sie geschickt? Ist das eine Kollektiventschuldigung?«
Lächelnd zog sie an ihrer Zigarette. »Mein Gott, nein. Es ist uns allen strengstens verboten, Kontakt mit Zeugen zu haben.«
Ein weiteres ironisches Lächeln. »Wegen des bevorstehenden Prozesses und der internen Untersuchungen. Von den Fernsehdokumentationen ganz zu schweigen.«
»Demnach stecken Sie alle in Schwierigkeiten?«
»Ziemlich«, antwortete sie vage. »Aber das ist in Ordnung. Wir haben es nicht besser verdient. Was wir getan haben, war …«, sie hielt inne, »… fast hätte ich gesagt, unverzeihlich. Es war unprofessionell. Dumm.
Blind. Falsch.«
Sie warf die Zigarette auf den Weg und trat sie mit der Spitze ihres schmalen Schuhs aus. »Vielleicht sollte ich dieses Gespräch für Clives Anwalt aufnehmen.« Sie runzelte die Stirn. »Ja, er hat rechtliche Schritte gegen uns eingeleitet. Zoë’s Tante ebenfalls. Sollen sie doch. Die beiden sind mir völlig egal. Im Gegensatz zu Zoë und Jenny. Diese beiden sind mir nicht egal, ebenso wenig wie Sie. Was Sie durchmachen mussten, ist mir nicht egal.«
Wir verließen den Pfad und wanderten querfeldein auf den Teich zu. Eine Windbö kräuselte die Wasseroberfläche und wehte Herbstlaub vor unsere Füße.
Ein Kind stand mit seiner Mutter am Wasser und warf den fetten Enten Brotstückchen zu.
»Es war nicht wirklich Ihre Schuld«, sagte ich vorsichtig.
»Das Ganze ist nicht auf Ihrem Mist gewachsen, oder?
Ich meine, uns nicht zu sagen, was da ablief.«
Sie sah mich bloß an. Offenbar hatte sie beschlossen, die volle Verantwortung für die Sache zu übernehmen, sich nicht zu drücken.
»So weit ich das beurteilen kann«, fuhr ich fort, »waren Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten ohnehin relativ ehrlich.«
»Danke, Nadia, aber wir wissen beide, dass ich mich in diesem Fall nicht mit Ruhm bekleckert habe. Es ist schon seltsam«, fügte sie hinzu, »da predige ich den Leuten immer, ihr Leben in den Griff zu bekommen, und dann verliere ich selbst total die Kontrolle. Jemand trifft eine Entscheidung – die Presse nicht über Zoës Tod zu informieren, um die
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