Der Sommernachtsball
für sie, wenn Vic und Phyl sie so sähen, was für ein dummes Gänschen. Was hat er bloß mit ihr angestellt? Wie lästig und ermüdend solche Gefühle sein müssen. Gott sei Dank gibt’s Bücher.) »Ich finde ja, sie sieht ein bisschen langweilig aus«, schloss sie gelassen. Sie machte manchmal so offene Bemerkungen, die dann über die weiten Ebenen von Klatsch und Tratsch segelten und durch ihre Taktlosigkeit als Bumerang zu ihrer Tante zurückkamen. (Das wird ihr zeigen, was ich von dieser tadellosen Phyllis halte – aber bloß nicht Partei ergreifen, das wäre das Letzte, was ich will. Viel zu ermüdend.)
»Na, jetzt muss ich aber sofort hingehen und gratulieren«, verkündete Mrs Wither. »Madge – Tina?«
Alle erhoben sich und machten sich auf den Weg ins Haus. Viola stand ebenfalls auf, schien aber nicht zu wissen, was sie tat, und machte keine Anstalten, ihnen zu folgen. Verloren stand sie da und starrte mit schwimmenden Augen und einem dicken Kloß im Hals in den Garten hinaus.
»Möchten Sie mit runter zum Fluss kommen? Da ist es ruhiger. Warten Sie, ich begleite Sie.«
Ein kühler, pummeliger Arm hakte sich bei Viola unter, und sie ließ sich widerstandslos von Hetty wegführen.
Unten am Fluss hatte man im dichten Gebüsch einige Liegestühle für ältere Gäste aufgestellt, die Abgeschiedenheit und Schatten und den Duft von Rhododendren liebten. In solch ein verstecktes kleines Nest führte Hetty die nun hemmungslos weinende Viola. Den Kopf gesenkt entfuhren ihren zerbissenen Lippen immer wieder herzzerreißende Schluchzer. Sie ließ sich kerzengerade auf dem Stuhlrand nieder und heulte in ein Paar zerknitterte, beigefarbene Handschuhe. Hetty, die sich in ihrem Liegestuhl zurücklehnte, schaute sich betreten um. Hoffentlich sah sie niemand. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie sagen sollte. Das Mädchen tat ihr zwar leid, aber sie war ungeduldig und gereizt. Nur jemand ohne Geschmack konnte sich derart in einen wie Victor hineinsteigern, und nur jemand ohne Willenskraft und Selbstachtung stellte seine Gefühle derart zur Schau.
Ach, ich wünschte, ich wäre sonst wo gewesen, bloß nicht bei den Withers, als sie es erfahren musste, dachte Hetty. Was muss sie es auch so schwernehmen! Ich hatte schon lange so ein Gefühl, schon seit dem Ball, dass Victor sich in sie verguckt hat. Aber ich hatte keine Ahnung, dass es schon so weit gegangen ist. Und ausgerechnet mir muss das mit der Verlobung rausrutschen. Was soll’s. Mir wird in der Hitze immer das Hirn weich.
»Haben Sie denn kein Taschentuch?«, fragte Hetty irgendwann brüsk. Als Viola den Kopf schüttelte, zog sie unter ihrem Strumpfband ein dunkelblaues hervor und drückte es der Untröstlichen in die Faust.
»Danke«, stieß Viola mit heiserer, erschöpfter Stimme hervor. Den Kopf gesenkt rieb sie ihre Augen und schnäuzte sich kräftig die Nase, welche mittlerweile kirschrot angelaufen war. Dann knüllte sie das Taschentuch zusammen und starrte auf ihre Schuhe.
»Tut mir leid, dass ich mich so gehen lasse«, sagte sie nach einer Weile kläglich.
»Ach, das macht doch nichts.« Hetty starrte zwischen den Zweigen hindurch zum blau glitzernden Fluss, wo die Boote vor Anker lagen.
»Aber es war so ein Schock, wissen Sie. Es geht schon wieder.«
»Gut.« Miss Franklins Ton war nicht aufmunternd. Sie liebte morbide Gefühle, aber nur aus sicherer Distanz. Wenn sie ihr zu nahe kamen, wurde es ihr ungemütlich.
»Wissen Sie« – Viola hatte nie viel Zurückhaltung besessen, und jetzt, wo sie ohnehin das letzte bisschen verloren hatte, sehnte sie sich danach, jemandem ihr Herz auszuschütten –, »aber Sie müssen schwören, dass Sie’s niemandem sagen! Schwören Sie’s, Hand auf die Bibel, Ehrenwort!«
»Du meine Güte, ja«, rief Hetty belustigt aus. Violas kindische Art besserte ihre Laune ein wenig. »Ich kümmere mich nur um meine eigenen Angelegenheiten, das kann ich Ihnen versichern. Erzählen Sie mir nichts, das Sie lieber für sich behalten würden.«
»Aber ich muss es jemandem sagen.« In Violas Augen standen schon wieder Tränen. »Es ist nur … ach, ich bin so dumm gewesen. Ich dachte, na ja, ich war mir sicher, dass er – Mr Spring, meine ich –, Ihr Cousin – dass er … ein Auge auf mich geworfen hat. Er hat sich auf dem Ball an mich herangemacht, er hat versprochen, mit mir ins Theater zu gehen, mir zu schreiben, und ich hab mich so drauf gefreut, und ich war so glücklich, so unendlich glücklich, als ich
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