Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommernachtsball

Der Sommernachtsball

Titel: Der Sommernachtsball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gibbons
Vom Netzwerk:
fünfzehn Jahre lügen, langsam verhungern, brav sein, nie jemandem die Wahrheit sagen – sie wollte ihr Unglück, ihr langes Leiden herausschreien, ihnen in die drei verängstigten Gesichter speien.
    Doch dann verging es. Zitternd fasste sie sich. Es war nicht die Schuld ihrer Eltern, dass ihre Jugend zerronnen war, versickert wie Wasser im Sand. Sie hatten ihr Bestes getan, Vater hatte ihre Schulen finanziert, den Kunstunterricht, das Journalismusstudium, von dem sie sich eigentlich nur einen Ehemann erhofft hatte; ihre Mutter hatte versucht, einen bescheidenen, sanftmütigen Menschen aus ihr zu machen, sie vor gewissen Erkenntnissen sorgfältig zu bewahren, sodass sie, wenn sie schon verkümmerte, sich dessen zumindest nicht bewusst war. Sie hatten ihr Bestes getan; und wenn sie dafür schon nicht dankbar sein konnte, dann wollte sie doch zumindest gerecht sein.
    Trotzdem, sie konnte nicht anders: sie wollte sehen, wie sie auf die Geschichte des Einsiedlers reagierten. Ein wenig Bitterkeit wollte einfach raus. Sie waren so nette, so anständige Menschen. Und nur allzu bereit zu glauben, dass sie liederlich war. Sollten sie doch.
    »Ja, es stimmt, Saxon und ich, wir haben ein Verhältnis«, verkündete sie in aller Seelenruhe, zitterte aber, als sie einen Blick in das rote, angeekelte Gesicht ihrer Schwester warf.
    »Tina!« Mrs Wither machte einen Schritt nach vorn. »Das kann doch nicht sein … das ist ein Scherz … mein kleines Mädchen … meine Jüngste …« Sie versuchte sogar, sie zu umarmen. »Wie konntest du nur? Ach, Tina … ein so gewöhnlicher Junge … und vom Dorf …«
    Tina wehrte sie ab.
    »Also, das ist abscheulich, das ist alles, was ich dazu zu sagen habe«, verkündete Madge lautstark. Breitbeinig stand sie da, das Kinn herausfordernd vorgeschoben. »Einfach abscheulich. Wir haben ja immer gewusst, dass du mannstoll bist, aber dass du so weit gehst. Ja spinnst du denn … dich aufzuführen wie ein Flittchen. Meine eigene Schwester … was werden sie im Club dazu sagen? Wie steh ich jetzt da?«
    Mr Withers Gesicht war eine Maske des Entsetzens, seine Haut war ganz fleckig geworden, grau und lila. Zweimal versuchte er etwas zu sagen, dann sank er in der Haltung eines alten, geprügelten Hundes zitternd auf seinen Stuhl.
    »Wie lange geht das schon?«, stieß er flüsternd hervor.
    »Sechs Monate. Ich habe mich schon in der ersten Woche in ihn verliebt. Wie schön er ist! Und wir«, sagte Tina mit harter, ruhiger Stimme (was für eine Erleichterung, was für eine Erlösung, diese heißen Worte endlich aussprechen zu können: die Wahrheit, die nackte Wahrheit, nackt wie Gott sie schuf!), »wir hier sind alles andere als schön, und das Leben, das wir führen, ist auch nicht schön. Aber er ist einfach göttlich, wie der frische junge Frühling. Keine Frau kann dem widerstehen, weißt du, Vater, und ich am allerwenigsten, eine Frau in meinem Alter, ausgehungert nach Liebe, nach Sex …«
    »Verflucht, Tina, musst du so daherreden«, unterbrach Madge sie angewidert.
    »… und weil ich es mir angewöhnt habe, der Wahrheit ins Auge zu sehen – etwas, das ihr nie fertigbringen werdet –, habe ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, eine Schwangerschaft zu riskieren …«
    Erstickte Rufe und Bewegung im Publikum.
    »… als nie die Liebe zu erleben, nie mit einem Mann zu schlafen oder höchstens mit einem, der alt und hässlich ist, so wie wir alle hier in diesem Haus alt und hässlich werden. Außer Viola.«
    Viola, die immer noch vorm Kamin kauerte und entsetzt zu ihrer Schwägerin hochsah, zuckte bei der Erwähnung ihres Namens zusammen. War das wirklich Tina, die all diese schrecklichen, schockierenden Dinge sagte?
    »Ach, Tina«, schluchzte Mrs Wither, »du bist doch nicht etwa – du bist doch nicht …«
    »Weiß ich noch nicht«, sagte Tina und zündete sich grimmig eine Zigarette an.
    »Alle werden es erfahren«, murmelte Mr Wither, die Hände auf den Knien, den Blick auf den Fußboden gerichtet, »alle. Allmächtiger – ich habe dich doch anständig erzogen, du hast alles bekommen, was du gebraucht hast – ein anständiges Zuhause, Taschengeld, diese Kunstschule, das mit dem Journalismus, du konntest tun, was du wolltest – und da gehst du und benimmst dich wie … als wärst du auf der Straße aufgewachsen … kein Gedanke an uns … keine Rücksicht – deine Mutter und ich …«
    Erstickt vor Wut und Abscheu, konnte er

Weitere Kostenlose Bücher