Der Sommernachtsball
suchen. Ich werde Mutter schreiben, wenn er was gefunden hat. Vater beruhigt sich schon wieder, aber, um ehrlich zu sein, es ist mir so ziemlich egal, wo sie bleiben, er, Mutter und Madge. Ich weiß, das klingt schrecklich, aber ich hab sie nie sonderlich gemocht.«
Für Viola, die ihren Vater mehr als alles auf der Welt geliebt hatte, klang das schlimmer als schrecklich.
»Ich will einfach bloß noch weg von hier und mit Saxon ein normales Leben anfangen. Und dieses Loch nie wieder sehen.« Tina wandte sich um und schaute in den dunklen, nebligen Abend hinaus. »Die letzten zwei Monate waren nicht gerade lustig, weißt du … na ja, also dann, Wiedersehen.«
Sie gab ihrer Schwägerin einen raschen Kuss, dann ging sie die Eingangsstufen hinunter. Viola eilte ihr nach.
»Äh, Tina, hast du genug Geld? Brauchst du noch was? Ich hätte noch sieben Pfund.«
»Ach, nein, danke, das ist sehr nett. Aber ich hab selbst noch drei, und Saxon hat noch was, und ich kann in London ja was von der Bank abheben. Wiedersehen. Los, geh rein, du holst dir sonst eine Erkältung.«
Viola sah der kleinen Gestalt im Pelzmantel nach, die, schief vom schweren Koffer, über die feuchte Auffahrt verschwand. Erst als sie den Strahl von Tinas Taschenlampe im Wald verschwinden sah, ging sie ins Haus zurück und machte langsam die Tür hinter sich zu.
21. KAPITEL
Tina schritt ins kleine Tal hinab. Die Bäume schlossen sich hinter ihr.
Der Weg war glitschig vom Nebel, es war schwer, das Gleichgewicht zu behalten, mit dem schweren Koffer in der einen Hand und der leichten Taschenlampe in der anderen. Mehr als einmal rutschte sie aus und gewann nur Halt, indem sie sich an den nassen, rissigen schwarzen Stamm einer Eiche lehnte. Sie konnte nichts sehen außer Baumstämmen und träge wabernden Nebelschwaden, kannte diesen Weg aber von klein auf, und so erreichte sie bald das Bächlein und überquerte es vorsichtig. Aus der Hütte des Einsiedlers drang ein schwaches, flackerndes Licht. Der schlief doch nicht auch noch um diese Jahreszeit dort? Aber eigentlich interessierte sie das nicht.
Mühsam arbeitete sie sich im Strahl ihrer Taschenlampe die andere Seite der Böschung hinauf. Nichts ist so verwirrend wie ein Wald im Nebel, selbst wenn man ihn wie seine Westentasche kennt. Aber auf dieser Seite war der Pfad schwerer auszumachen.
Sie war ängstlich und traurig. Ihr ganzer Zorn war verraucht. Sie hatte ihre Familie verlassen (gut, sie war rausgeworfen worden, aber das lief auf dasselbe hinaus), das Zuhause, in dem sie aufgewachsen war, den gewohnten Alltag, um sich nun einem Fremden anzuvertrauen. So kam ihr Saxon jedenfalls in diesem Moment vor. Mühsam erklomm sie den Rand der Böschung, im Hals den kalten, klammen Herbstnebel. Ihre Beziehung war immer geheim und damit romantisch gewesen, was sie dazu verführte, ihren Mann mit einem jungen Wolf, mit einem Frühlingsgott zu vergleichen, doch auf einmal erschienen ihr all diese Vergleiche nur noch lächerlich. Saxon war ein netter, anständiger Bursche, von dem sie sich nur zu gern küssen ließ, aber sie hoffte, dass er in dieser unangenehmen Situation nun seinen Mann stand.
Ihre Begegnungen seit ihrer Rückkehr aus Stanton waren ebenfalls romantisch gewesen, in herbstlich-feuchten Waldstücken oder in versteckten Teestuben in Chesterbourne. Aber die Romantik war ihnen inzwischen vergangen, nicht nur Saxon, auch Tina. Beide störte es mehr und mehr, sich heimlich treffen zu müssen, wie in einem Krimi von Mignon Good Eberhart, dabei war man rechtmäßig verheiratet und sollte eigentlich gemütlich beisammen am Kamin sitzen, Toffees lutschen und sich gegenseitig auf interessante Passagen in den Büchern aufmerksam machen, die man gerade las.
Kurz gesagt, die Gefühle von Tina und Saxon hatten sich von einer romantischen zu einer ehelichen Liebe gewandelt.
(Es würde zu lange dauern, das genauer zu erklären; jeder weiß, dass es diesen Unterschied gibt. Die eine Art von Liebe ist genauso schätzenswert wie die andere; es hängt eben davon ab, was man bevorzugt.)
Der Wandel hatte schon im Urlaub in Stanton begonnen, als sie noch miteinander gingen und noch bevor sie verheiratet waren. Saxon hatte als Erster gemerkt, dass die natürliche Konsequenz ihrer Gefühle füreinander die Ehe war. Er hatte Tina einen Antrag gemacht, und sie hatte ja gesagt.
Er hatte es Mr Wither gleich nach ihrer Rückkehr sagen wollen, denn es missfiel ihm, sich in feuchtem Laub zu lieben und seine Frau in der
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