Der Sommernachtsball
einen Moment lang nicht weiterreden.
»… dieser Junge, den ich aus reiner Barmherzigkeit bei mir aufgenommen habe, sein Vater hat sich zu Tode gesoffen, seine Mutter wäscht andern die Wäsche – ich kann’s nicht fassen, ich kann nicht glauben, dass sich meine eigene Tochter aufführt wie … wie eine billige Straßendirne – so zu reden … über Sex und all das … und dieser Teufel, der es in der ganzen Gegend rumschreit, bald wird es jeder wissen, dass du dich mit dem Chauffeur eingelassen hast …« Er stand auf, schritt auf und ab, schüttelte die Fäuste, »… wie eine Hure …«
»Vater«, stöhnte Mrs Wither.
»… vom Piccadilly.«
Tina blieb während dieser Tirade unbewegt am Kamin stehen und starrte ihren Vater an. Er kam ihr vor wie ein Fremder, so hatte sie ihn noch nie erlebt. Ordinäre, grobe Worte sprudelten aus ihm hervor, als wäre es auch für ihn eine Erleichterung, sie endlich einmal rauszulassen. Vielleicht bin ich ja nicht die Einzige, die vollkommen ausgehungert war, dachte sie.
Ihre eigene Wut war verraucht. Sie hatte ihrem Kummer über ihre verlorene Jugend mit diesen heißen, nackten Worten Luft gemacht und war jetzt ruhiger. Es tat ihr fast schon leid, dass sie die Dinge dramatischer hingestellt hatte, als sie in Wirklichkeit waren.
Aber daran war Madge schuld. Was sie gesagt, WIE sie es gesagt, wie sie sie angeschaut hatte, auf diese misstrauisch-gerissene Art, als würde sie WOLLEN , dass das Schlimmste sich als die Wahrheit herausstellt. Ihre ganze Familie hatte einen Schlag weg, was Sexualität betraf. Das war ihr wunder Punkt. Wenn man den berührte, jaulten sie auf und spielten verrückt. Nur sie allein wussten, was für alte Sehnsüchte und zerstörte Hoffnungen sie mit ihren heißen, nackten Wahrheiten aufgewühlt hatte.
Aber Millionen von Leuten waren so.
Arme, erbärmliche Menschen, die das Beste aus einem schlechten Leben machten. Sie war jetzt ganz ruhig und ein wenig traurig und auch ein wenig beschämt. Als ihr Vater sich ausgetobt hatte und in ersticktes Schweigen verfiel, sagte sie:
»Entschuldige, Vater. Ich hätte euch gleich sagen sollen, dass Saxon und ich verheiratet sind.«
» Verheiratet ?«, kreischten alle. Und schauten entsetzter drein als je zuvor.
»Verheiratet? Mit einem Chauffeur?«, brüllte Mr Wither und machte einen Sprung auf seine Tochter zu, als wolle er sie schlagen. »Du lügst, das ist eine Lüge!«
»Nein, Vater. Saxon und ich, wir haben im September in Stanton geheiratet.«
Madge fiel sofort über Viola her. »Das musst du gewusst haben, du gerissenes kleines Biest! Du warst schließlich da.«
»Ich – ich hab gar nichts gewusst«, stammelte Viola, »ich hatte keine Ahnung. Sie hat kein Wort zu mir gesagt.«
»Du musst es doch geahnt haben, wenn du nicht vollkommen verblödet bist.«
»Ich wusste nichts! Und blöd bin ich auch nicht!«
»Dann eben eine Lügnerin, so wie sie«, sagte Madge verächtlich, »kein Wunder, bei der Familie, aus der du stammst. Das ist wie bei Hunden. Liegt alles im Blut.«
»Du bist kein Stück besser als ich!«, rief Viola hitzig aus. »Auch wenn ich mal Verkäuferin war!«
»Sch … sch …«, meinte Mrs Wither und fuchtelte fahrig mit den Händen herum. »Tina, ist das wahr?«
»Natürlich ist es wahr«, entgegnete diese gereizt, »warum sollte ich es sagen, wenn’s nicht wahr wäre?«
»Dann, dann ist es ja auch in Ordnung, das mit der …«
»Ach, ich bin nicht schwanger, falls du das meinst«, antwortete Tina unwirsch und drückte ihre Zigarette aus wie eine Heldin aus einem frühen Noël-Coward-Roman. »Das hab ich bloß gesagt, um euch zu schocken. Ihr wolltet ja geradezu schockiert werden. Also hab ich euch gegeben, was ihr wolltet.« Sie starrte mürrisch ins Feuer.
»Jetzt reicht’s«, sagte Mr Wither schwer atmend. »Du verlässt sofort dieses Haus und lässt dich hier nie wieder blicken, nie wieder.«
»Schade, dass es nicht schneit.«
»Was?!«
»Ich sagte: schade, dass es nicht auch noch schneit. Tja, dann …« Sie richtete sich auf und schaute sich noch ein letztes Mal im Wohnzimmer um. Wenn sie es je wiedersähe, dann mit den Augen einer Ehefrau, der Frau eines jungen Chauffeurs, der sie beide nun mit drei Pfund pro Woche durchbringen musste. Sie selbst hatte ungefähr siebzig Pfund.
»Also gut, Vater. Ich gehe nur rasch und hole meinen Mann ab.« (Wie schön es war, diese Worte auszusprechen, trotz der Angst, die man hatte, weil man ja nicht wusste, wie Saxon diese
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