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Der Sommernachtsball

Der Sommernachtsball

Titel: Der Sommernachtsball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gibbons
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anderen Seite des verborgenen Bachs lag unter einer dichten Decke aus vertrockneten Zweigen eine kleine Hütte aus verrostetem Wellblech. Viola musste zweimal hinschauen, ehe sie erkannte, was es war. Das Gebilde stand in einer kleinen, mit Asche bedeckten Lichtung. Weiße Ascheflocken wurden vom Wind sanft aufgewirbelt.
    In diesem Moment tauchte ein dichter Schopf grauer, lockiger Haare auf, die dem Mann – und es war ein Mann – bis zu den Schultern reichten und ihm das Aussehen eines altertümlichen Chevaliers verliehen. Der untersetzte, kräftige Alte starrte sie sekundenlang an, dann rief er mit einem zufriedenen Nicken: »Hallo, Täubchen.« Der gedämpfte, behutsame Ton seiner heiseren Stimme klang, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen. Er trug Mantel und Hose aus grob zusammengenähtem Sackleinen, geflickt mit mehrmals zusammengefaltetem Zeitungspapier. Auch war er ziemlich schmutzig. Seine Füße steckten in großen, klobigen Stiefeln, die durch Schnüre zusammengehalten wurden.
    Viola wich zurück; sie fürchtete, er könnte verrückt sein. Und sie wusste, wer das war: der Einsiedler. Gelegentlich stand etwas über ihn im CHESTERBOURNE RECORD . Dass er in diesem Wäldchen lebte, hatte sie nicht gewusst, und es gefiel ihr gar nicht.
    »Sie brauchen keene Angst nich vor mir hab’n«, rief er ein wenig lauter. »Ich weeß jenau, wer Sie sin’. De junge Mrs Wither von The Eagles. Stimmt doch, wa?«
    Ein wenig beruhigt nickte sie. Er hatte leuchtende kleine Knopfaugen, die sie an ein Tierchen erinnerten, aber irrsinnig schien er nicht zu sein.
    »Wusst’ ich’s doch, wa?«, sagte der Einsiedler. Seine Verschwörerstimme und sein wilder Aufzug kontrastierten scharf mit seinem Plauderton. »Ihren Verblichenen hab ich auch vom Sehen jekannt. ’n fetter kleiner Kerl, stimmt’s?«
    Das stimmte allerdings. Leider ist Ehrlichkeit meist auch unhöflich. Viola schwieg.
    »Haste schon von mir gehört?«, fuhr er fort. »Hamse von mir jeredet, oben auf The Eagles?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Was, nich mal der olle Schacko-pur-swa?«
    »Wie bitte?« Sie glaubte zu wissen, wen er meinte, und trat, ihr Misstrauen vergessend, unwillkürlich ein wenig näher.
    »Na, der olle Schacko-pur-swa. Der Vater deines Verblichenen. Denkt immer nur an sich.«
    Sie verstand nur, dass Mr Wither gemeint war.
    »Na, mich kennt er sehr wohl, der olle Schacko-pur-swa. Beklagt sich andauernd über mich bei den Schnöseln vom Stadtrat, will mich von hier vertreiben, wa. Aber die hör’n nich auf ihn, ich tu sowieso keinem was, wa. Der junge Spring legt manchmal ’n jutes Wort für mich ein. Willste nich reinkommen?«
    Er wies mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf seine Bruchbude.
    Sie schüttelte schmunzelnd den Kopf.
    »Ziemlich langweilig, oben auf The Eagles, wa?«, sagte er und zwinkerte ihr so heftig zu, dass sie es für eine krampfhafte Zuckung seines Auges hielt.
    Abermals schüttelte sie schmunzelnd den Kopf.
    Ihr Vater hatte ihr nie beigebracht, dass jeder Mensch seinen festen Platz in der Gesellschaft hat. Dass A, der genug zum Essen und genug zum Anziehen hatte, gesellschaftlich über B stand, der bettelarm war, und dass A daher von B Respekt erwarten durfte. Nicht einmal Miss Cattyman und die Tanten, chronische Snobs, hatten es geschafft, Viola mit dieser Krankheit zu infizieren. Ihr Vater hätte den Einsiedler als »herrliches Shakespeare’sches Original« bezeichnet, »so was findet man kaum noch, Viola«. Es kam ihr daher nicht in den Sinn, ihn für unverschämt zu halten, selbst wenn ihr dieses Zwinkern nicht gefiel.
    Dennoch fiel ihre Antwort – abermals aus schuldbewusster Loyalität gegenüber ihrem verstorbenen Mann und dessen Familie – reservierter aus, als es in ihrer Natur lag:
    »Ein wenig einsam ist es schon.«
    »Ah! Willst wohl jerne wieder heiraten, wa?«
    »Nein!«, lachte sie.
    »Nich’ zu kalt, nachts im Bettchen?« Diesmal war klar, dass das Zwinkern keine Zuckung war.
    Jetzt reichte es Viola doch. Mit glühenden Wangen wandte sie sich ab und rief ihm über die Schulter noch »Auf Wiedersehen« zu.
    »Tschüss, Täubchen!«, rief der Einsiedler. Er starrte ihr sehnsüchtig hinterher; dann lauter: »Hast’s wohl eilig, wa?«
    Ohne ihn zu beachten, eilte sie weiter, obwohl er ihr noch mehrmals hinterherrief. Sie erklomm die leichte Steigung und traf auf einen anderen Pfad, der sie zur Straße zurückführte. Hier wuchsen meist Buchen, deren hohe, sanft rauschende Kronen ein frisches grünes

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