Der Sommernachtsball
Kunstschule in London«, erklärte Hetty freundlich. Sie bemühte sich jetzt, weniger gekünstelt zu reden, denn sie merkte, dass sie Viola damit verlegen machte. »Ihre Schwägerin ist doch auf eine Kunstschule gegangen, wenn ich mich nicht irre? Zumindest behauptet das meine Tante. Sie wird Carlotti kennen – Sie können sie ja fragen, wenn Sie wieder zu Hause sind.«
»Janz recht«, nickte der Einsiedler, »Carlotti inne Kings Road, Chelsea. Hab für die janz Jroßen Modell jestanden. Für den Herrn Whistler, den Herrn Alma Tadema, den Herrn Holman Hunt und wie se alle heißen. Die ganz Jroßen, kannste mir jlauben. Ich war damals ’ne richtge Schönheit. Bin’s immer noch, um jenau zu sein. Also glaubt nich, dass ich euch was will, ihr Täubchen, so eener bin ich nich. Ich weiß, wenn ich’s mit ’ner Dame zu tun hab, wa. Obwohl’s heutzutage gar nich mehr so leicht iss, die eine von der andern Sorte zu unterscheiden, wenn ihr versteht, was ich meine. Und ich will euch wirklich nichts – ich bin janz harmlos. Ich tu nix, wo eure Mütter was jegen hätten. Das iss in Ordnung, versteht ihr? Wenn’s keine Kunst iss, dann isses Schmutz, aba wenn’s Kunst iss, dann isses in Ordnung, vasteht ihr? Was wollt ich sachen? Ach ja, falls ihr mal eines schönen Morjens hier runterkommen solltet, wenn ich grade meine Morjentoilette im Bach mache, dann könntet ihr mich sehen. ’ne Schönheit, sach ich – Muskeln, Popoportionen, alles. Sogar meene Füße – und das iss ’ne Seltenheit, kann ich euch sachen. Der Herr Le Strange – der jroße Le Strange, wisst ihr –, also der hat immer zu mir jesacht: ›Ach Falger‹, hat er jesacht, ›auf zehn tolle Paar Schultern kommt höchstens ein Paar tolle Füße.‹ Hat er jesacht, der Herr Le Strange. War janz begeistert von meinen Füßen, wollt sie andauernd malen. Ich weiß noch ein Bild von ihm, das hieß ›Der Morjen‹, ich renn da in so ’ner Art Nachthemd hinter ’ner Ziege ’nen Berg rauf. Richtig hübsch. Großer Krug, richtiger Oschi. Steht jetzt inner Westwater Kunstgalerie.«
»Und das Schnitzen hat er gelernt, indem er den Kunststudenten zugeschaut hat. Sagt er zumindest«, murmelte Hetty.
»Janz recht«, bestätigte der Einsiedler, dessen Ohren schärfer zu sein schienen als die von Menschen, die in Häusern lebten. Er hielt »Bärenmutter mit Jungen« hoch und begutachtete es, nicht etwa kritisch, sondern anerkennend. Dann brummelte er: »Aah, iss das ’ne Hitze. Ich glaub, ich gönn mir ’nen kleinen Rosie.« Er legte seine Schnitzarbeit vorsichtig auf ein Stück Zeitungspapier und krabbelte in seine Hütte.
»Gehen Sie zum Hospiz-Ball?«, erkundigte sich Hetty. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.
»Ich weiß nicht. Tina (meine Schwägerin, Sie haben uns beide an dem Tag mitgenommen) hat zwar was erwähnt, aber ich weiß nicht, ob sie mich auch mitnehmen werden.«
Hetty widerstand der Versuchung zu sagen: »Mach dir nichts draus, Aschenputtel.« Stattdessen sagte sie:
»Er ist in einer Woche – ja, heute in einer Woche. Gott, wie die Zeit vergeht!« Und sie zog ein mürrisches Gesicht. Der Gedanke, ihre Jugend zu verschwenden, während die Jahre vorbeiflogen, gefiel ihr gar nicht.
»Und ähm – werden Sie hingehen?«, entfuhr es Viola. Was sie wirklich wissen wollte, war, ob ER , Mr Spring, Hettys Cousin, auch hingehen würde, aber direkt wollte sie nicht fragen.
»Leider ja.«
»Wieso? Tanzen Sie denn nicht gern?«
»Nein.«
»Na, so was! Also ich tanze unheimlich gern. Ich bin ganz verrückt danach.« Und tatsächlich sah sie verrückt aus mit ihren weit aufgerissenen Augen und einer Raupe in ihrem feinen, weißblonden Haar. »Ach, ich hoffe so sehr, dass sie mich mitnehmen! Werden Sie allein hingehen?«
»Nein, mit meiner Tante und einer kleinen Gruppe«, antwortete Hetty niedergedrückt.
Sie war klug und sensibel; ihre Vorstellungskraft hatte sich wie ein feines Netz über das Wäldchen und seine drei Insassen gelegt, sie nahm die subtilsten Schönheiten wahr und die psychologischen Nuancen im Charakter der drei Anwesenden. Aber was sie nicht erriet, war, dass Viola in Wahrheit wissen wollte, ob Victor zum Ball ging. Die Wahrheit, schlichtester von allen Fischen, war ihr nicht etwa durchs Netz geschlüpft: Sie kam nicht einmal in dessen Nähe.
»Eine große Gruppe?«, hakte Viola zaghaft nach.
»Ach nein, eine kleine, aber groß genug, um einem auf die Nerven zu gehen. Meine Tante, mein Cousin Victor, Miss Barlow, die bei uns
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