Der Sommernachtsball
unter dem Hütchen hervor. Mit einem schweren Koffer in der einen Hand, mit der anderen den Hut festhaltend, kam sie den Bahnsteig hinunter, wobei sie sich suchend umsah.
»Da bist du ja, Viola«, begrüßte Mrs Wither die junge Frau und hielt sie am Arm fest. Viola beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen ungeschickten Kuss.
»Hallo, Mrs Wither.«
Ihre Stimme war ein wenig tiefer als die anderer Frauen. Hätte sie sich in den entsprechenden Kreisen bewegt, wäre sie dafür umschwärmt worden. Trotzdem war sie keine Sirene, sondern vielmehr eine junge, einundzwanzigjährige Frau, die elegant zu wirken versuchte. Viola trug ein billiges schwarzes Kostüm, dazu eine rosa Seidenbluse und Handschühchen mit Spitzenmanschetten, die Mrs Wither zu frivol fand. Sie war blass, hatte träumerische, schmale, hellgraue Augen, einen kindlichen, vollen Mund mit kleinen, halb geöffneten Lippen und hübschen Zähnen. Wie eine Lady wirkte sie nicht, was nicht verwunderlich war, denn sie war keine.
»Hattest du eine angenehme Fahrt?«
»O ja, danke, war ganz bequem.«
»Dein Schrankkoffer ist bereits eingetroffen.«
»O prima!«
Sie gingen nach draußen zum Wagen. Viola war einen ganzen Kopf größer als Mrs Wither. Saxon legte grüßend den Finger an die Mütze und verstaute ihren Koffer. Den Blick höflich gesenkt setzte er sich wieder hinters Steuer, und die beiden Damen nahmen auf dem Rücksitz Platz. Dann fuhren sie los.
»Wie famos es hier aussieht«, bemerkte Viola, deren Blick bewundernd über die Landschaft schweifte.
»Das liegt am Regen. Wie ich immer sage: Erst ist er lästig, aber hinterher wächst alles so schön.«
»Ja, hübsch.«
»Und wie geht es dir?«, erkundigte sich Mrs Wither pflichtbewusst. »Alle Erkältungen auskuriert?«
»Ja, danke. Mir geht’s wieder gut.«
»Und hat alles geklappt – mit der Wohnung, den Möbeln und den Katzen?«
»Ach, ja, danke. Das hat Geoff alles für mich erledigt. Sie wissen schon, Geoff Davis, der Mann meiner Freundin Shirley.«
Mrs Wither nickte. Sie war ein wenig verlegen. Seit der Beerdigung hatte sie Viola nicht mehr gesehen und fühlte sich in ihrer Gegenwart nun ein wenig fremd und unbehaglich. Nicht, dass sie ihre Schwiegertochter je sonderlich gut kennengelernt hatte. Und die Sache mit dem Londoner Apartment war ein wenig peinlich. Das Apartment war der Grund, warum Viola erst jetzt, drei Monate nach Teddys Tod, zu ihnen ziehen konnte. Immer wieder hatte sie ihre Ankunft brieflich aufgeschoben und als Grund die Probleme beim Verkauf des Apartments angegeben, bis Madge schließlich in ihrer geradlinigen, unverblümten Art gesagt hatte, es sei klar wie Kloßbrühe, dass die Kleine keine Lust hatte, zu ihnen zu ziehen.
Und dann noch die Sache mit den Katzen.
Teddy hatte sie geliebt, diese Katzen. Sie hießen Sentimental Tommy und Valentine Brown, nach zwei Figuren aus dem Werk von Sir J. M. Barrie, seinem Lieblingsautor. Viola hatte es für ihre Pflicht gehalten, ein gutes Heim für die beiden zu finden, was Zeit brauchte, da sie nicht nur riesengroß, fett und gefräßig waren, sondern sich auch nicht trennen ließen. Wenn man es versuchte, ging es rapide mit ihnen bergab. Schließlich gelang es Viola mit Shirleys Hilfe, sie in einem Rasthaus in der Nähe von St. Albans unterzubringen, wo man noch an den persönlichen Touch glaubte.
Wie gesagt, all dies hatte Zeit in Anspruch genommen, und Mrs Wither, die die Befangenheit in Violas Stimme bemerkte, fragte sich zum hundertsten Mal, ob die junge Frau wirklich bei ihnen auf The Eagles wohnen wollte.
Falls nicht, war das höchst undankbar und unschön von ihr.
»Shirley Davis? Ja, ich glaube, die hast du schon mal erwähnt, oder?«
»Och, bestimmt hundert Mal, wette ich. Sie ist meine beste Freundin, wissen Sie. Sie war auch auf meiner Hochzeit.«
»Ja, ich kann mich noch genau erinnern. Ziemlich auffallendes Mädchen.«
Gefärbte Haare, da war sich Mrs Wither sicher. Ein solches Rot konnte nicht natürlich sein.
Es folgte ein kurzes, belangloses Gespräch über die Londoner Wohnung, während sich der Wagen durch die engen, belebten Straßen von Chesterbourne zwängte. Viola beantwortete Mrs Withers Fragen zwar höflich und zuvorkommend, doch man merkte ihr an, dass sie mit ihren Gedanken woanders war. Als sie schließlich, an einer Ecke der Main Street, an einem kleinen Damenmodegeschäft vorbeikamen, lehnte sie sich spontan aus dem Fenster und rief: »Ach, da ist es ja! Wie schön, endlich mal
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