Der Sommersohn: Roman
irgendeiner Ecke absetzen würde, könnte ich von dort aus jeden Ort finden, der in meinem Kopf herumspukt. Ich erinnere mich an die Tankstellen und ich erinnere mich an die Bars. Ich erinnere mich an die Songs in der Musikbox und im Radio. Wenn ich »Sad Eyes« in einem Oldie-Sender höre, bin ich wieder in Milford.
Dann gibt es da noch die Sachen, die ich vergessen habe. Ich könnte Ihnen zum Beispiel nicht den Namen des Diners oder den vom Trailerpark nennen. Die optischen Eindrücke jener kleinen Stadt aber bleiben mir unabänderlich im Gedächtnis haften, auch wenn sich ein Leben voller Erfahrungen darüberschiebt. Die Namen tun nichts zur Sache.
Ich weiß auch noch, dass Dad nach Aqua Velva roch, als sein Streit mit Marie mich in die Dämmerung hinaustrieb.
Dad kam aus dem Bad und zog Bilanz, bereit, den von Marie angerichteten Schaden einzuschätzen, Schecks für Jerry und Toby abzuziehen, verschiedene Abzahlungen für seine Ausrüstung, Benzinkosten und die Begleichung der restlichen eintrudelnden Rechnungen. Ich setzte mich ihm gegenüber und sah auf den Schwarz-WeißFernseher mit leise gestelltem Ton, sodass nur ich ihn hören konnte.
Dad schrieb jeden Posten auf, und ich sah, wie er sich immer öfter das Gesicht rieb, als sich das ungünstige Ergebnis abzeichnete. Schließlich wandte er sich an Marie, die las.
»Fünfhundertzweiundzwanzig Dollar.«
»Was?«
»Fünfhundertzweiundzwanzig Dollar. So viel haben wir für die nächsten zwei Wochen. Für mich, um diese Crew am Laufen zu halten, um Werkzeug zu kaufen, Vorräte anzulegen, die Miete hier zu bezahlen, und für dich, damit du das tust, was immer du verdammtnoch mal tust. Scheiße, Marie, das reicht nicht mal für den Sprit.«
»Du meinst also, weil ich ein paar Sachen gekauft habe, sind wir jetzt pleite?«
»Weil du ein paar zu viel Sachen gekauft hast, sind wir pleite.«
»Was soll ich dazu sagen, Jim? Was soll ich denn hier den ganzen Tag machen?«
»Du brauchst überhaupt nicht mitzukommen. Wenn du nichts anderes im Kopf hast, als uns zu ruinieren, wäre mir lieber, du bleibst weg.«
»Dir wäre also lieber, wenn ich auf der Ranch rumhocken würde?«
»Dafür haben wir sie gekauft.«
»Ich sitze da aber nicht wochenlang rum und warte, dass du nach Hause kommst.«
»Nein, du hockst hier rum und blutest mich aus.«
»Fick dich, Jim.«
»Fick mich?« Er stand auf und ging auf sie los.
Marie sprang auf und trat ihm entgegen.
»Ja. Fick dich.« Sie revanchierte sich mit einem Schwinger, der Dads Arm aber nur leicht streifte. Darüber stinksauer, drängte sie sich an ihm vorbei in den Flur und begann, mit Toilettenartikeln zu werfen. Er duckte sich unter einer Dose Rasierschaum. Sie schlug auf dem Tisch vor mir auf und prallte an meiner Stirn ab.
Ich flüchtete. Dad brüllte hinter mir her, aber dann zischte eine Seifenschale vorbei, knallte ins hintere Fenster und Marie hatte wieder seine volle Aufmerksamkeit. Ich hörte, wie sie sich anschrien, während ich über die Schotterpiste davonsprintete, über die Straße und bergauf in den Park. Oben auf dem Hügel, wo sich die Häuserreihen fortsetzten, hielt ich inne, legte die Hände auf die Knie und rang nach Luft. Sobald ich wieder zu Atem kam, rannte ich kreuz und quer durch die Straßen, bis ich endlich vor Jerrys Tür landete.
Ich klopfte viermal. Zusätzlich lehnte ich mich an die Türklingel.
Irritiert riss Jerry die Tür auf und sah mich da stehen, mit wogender Brust. Er trat zur Seite und winkte mich rein.
Um acht Uhr konnte ich nicht länger gegen den Schlaf ankämpfen. Mein eigener Zoff mit Dad hatte schon gereicht; ein anhaltender Konflikt mit Marie würde vielleicht uns allen das Leben sehr viel schwerer machen. Unter Stress drehte Dad aus Sorge um seine Arbeit schier durch, und das würde er sicher an den Menschen in seinem Umfeld auslassen. Voller Besorgnis und mit nur wenigen Handvoll Kartoffelchips im Magen, die ich bei Jerry gegessen hatte, sank ich auf dem Fußboden vor dem Fernseher in einen unruhigen Schlaf.
Gegen zehn rüttelte mich Jerry wach und sagte, ich sollte ans Telefon gehen. Schlaftrunken tappte ich in die Küche.
»Hallo?«
»Hi, Mitch.«
»Marie?«
»Ja. Tut mir leid wegen heute Abend. Ich fahre nach Montana zurück. Ist wohl das Beste. Ich wollte mich nur noch mal melden und sichergehen, dass du okay bist.«
»Ja, ich glaub schon.«
»Gut. Ich wollte dich wissen lassen, dass du im Augenblick nicht zu viel von deinem Vater verlangen solltest,
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