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Der Sommersohn: Roman

Der Sommersohn: Roman

Titel: Der Sommersohn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Lancaster
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und ich ließ meinen Kopf an seine Brust sinken, erstickte das Schluchzen, das nicht aufhören wollte, egal, wie sehr Dad mich ausschimpfte.
    »Alles wird gut«, flüsterte Jerry und tätschelte meinen Kopf. »Pssssst! Pssssst! Alles wird gut.«

BILLINGS | 19. SEPTEMBER 2007
    Es wurde wieder Morgen, und wieder einmal war ich vor Dad wach. Als ich klein war, wachte Dad aus lauter Sorge um die Arbeit noch vor Sonnenaufgang auf, und mich musste er wachrütteln. Jetzt, da ihn keine Arbeitslast mehr drückte, schlief er tief und fest, und ich lag nebenan und hatte an meinen Sorgen zu knacken.
    Ich dachte an den Anruf, den ich machen müsste, um mein Ticket auf irgendwas mit offenem Rückflug umzubuchen. Mein planmäßiger Flug zurück nach Hause sollte in vierundzwanzig Stunden sein. Ich befürchtete allerdings, dass ich länger brauchte, die Dinge hier zu regeln. Ich fragte mich natürlich auch, was Cindy davon halten würde. Wartete sie auf meine Rückkehr, oder war sie froh, mich los zu sein?
    Der Alte schlummerte. Ich zog mich an und ging aus dem Haus.
    Ich fuhr auf der Lewis Avenue in Richtung Zentrum von Billings, das sich noch verschlafen räkelte. Ich fand die Ausfahrt nach Süden und überquerte die Interstate 90, zu dem Fleckchen Erde, das ich sehen musste. Es war noch viel zu früh, einen Wagen vor einem fremden Haus zu parken, deshalb fuhr ich weiter an unserem alten Haus vorbei bis zum Coulson Park, den Yellowstone River entlang. Ein zügiger Fußmarsch würde mich wieder an den Ort zurückbringen, den ich sehen wollte, und das würde mir guttun.
    Ich freute mich über den wunderschönen Herbsttag. Ich sah einen Jogger auf seinem Morgenlauf, aber von ihm abgesehen, gehörte der Park mir allein. Und wie ich so auf das Wasser und das Sacrifice Cliff dahinter starrte, konnte ich so tun, als ob Billings und seine hunderttausend Einwohner – allesamt hinter mir von diesem Blickwinkel aus – kaum existierten. Eine halbe Drehung jedoch würde alles wieder zum Vorschein bringen: die Häuser im Zentrum, die Raffinerie, der Highway und die Straßen in der Innen stadt und den Rimrocks, der Felsrand, der sie umschließt.
    Ich erinnerte mich an die starken Sinneseindrücke dieser Stadt. Meine frühesten Erinnerungen an diesen Ort waren keine Bilder, sondern Gerüche. Die Raffinerien, die Zuckerrübenfabrik, der Fleischverarbeitungsbetrieb, jetzt verschwunden – diese konnten die Stadt mit einem fauligen Gestank überlagern, der sich durch andere, wohlgefälligere sinnliche Wahrnehmungen nicht wettmachen ließ. Als ich in späteren Jahren keinen Kontakt mehr zu Dad hatte, mit der Mauer aus Wut und Groll zwischen uns, drehte mir allein der Gedanke an Billings den Magen um. Seit Langem hatte ich wichtige Dinge hier nicht erledigt. Meine Anwesenheit hier erforderte, dass ich mich ihnen stellte, so ich mich denn traute.
    Das Sacrifice Cliff rief eine andere Erinnerung wach, die ich meinem jugendlichen Lesehunger verdankte. 1837 stiegen sechzehn Reiter der Absarokee auf ihre erschreckten geblendeten Pferde und stürzten sich von der Klippe in den Tod. Diesen Preis zahlten sie zur Besänftigung der Götter und Eindämmung der Pockenepidemie, die ihr Volk dezimierte. Die Krankheit, vom weißen Mann ins Land gebracht, tötete die Absarokee in Massen.
    Das war für mich immer eine herzzerreißende Geschichte gewesen, doch an diesem Tag rückte es die Dinge in die gewünschte Perspektive. Die Krankheit, die in der Familie Quillen grassierte, nicht annähernd so fatal wie Pocken, aber genauso tückisch, zwang mich nicht, das Sacrifice Cliff zu erklimmen und mich in den Tod zu stürzen. Ich musste mich nur umdrehen und mich dem stellen, was hinter mir lag.
    Ein zehnminütiger flotter Fußmarsch brachte mich zur Charlene Street und dem Haus, in dem ich geboren wurde. Obwohl das Haus nur etwa sechzig Meter von der Interstate entfernt stand, lag es abgeschieden, dank der vier großen Pappeln, die es von der Straße abschirmten. Ich musterte das Haus im Näherkommen und versuchte, den Schleier der Erinnerung mit dem Augenschein in Einklang zu bringen. Als wir dort wohnten, war die Fassade ein tristes Weiß wie bei vielen Häusern damals. Ein späterer Eigentümer hatte sie in einem ansprechenden Meerschaumton gestrichen.
    Ich ging ein Stück am Haus vorbei, denn ich wollte nicht als ein seltsamer Typ erscheinen, der frühmorgens auf der Straße steht und durch die Fenster guckt. Aus sicherer Entfernung machte ich kehrt, um noch

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