Der Sommersohn: Roman
einmal vorüberzugehen.
Als ich wieder näher kam, sah ich einen Mann in der Auffahrt, der sich nach der Morgenzeitung bückte. Er sah mich und winkte mir zu.
»Morgen.«
Ich blieb stehen. »Guten Morgen.«
Ich zögerte, kämpfte mit mir, ob ich noch etwas sagen sollte, und dann platzte ich damit heraus:
»Ich bin in dem Haus geboren.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Am 4. Juni 1968.«
»Wie lange haben Sie hier gewohnt?«
»Bis ungefähr 71. Mein Vater hat hier bis etwa 77 gewohnt, darum bin ich auch einige Male wiedergekommen.«
»Wir haben das Haus 94 gekauft.«
»Sieht echt gut aus. Schöne Farbe.«
»Danke.«
Ich winkte dem Mann zu.
»Na dann einen schönen Tag noch.«
Ich war gerade mal fünf Schritte weg, als er mich nochmals ansprach:
»Möchten Sie reinkommen und es sich ansehen?«
Die Erinnerung ist eigenartig. Sie vergrößert Orte und Räume. Bis zu diesem Morgen, als ich zum ersten Mal seit über dreißig Jahren in meinem alten Kinderzimmer stand, hatte ich es mir immer viel größer vorgestellt. In Wirklichkeit war es nicht viel größer als 2,5 m 2 , gerade mal groß genug für ein Bett und eine Kommode. Die Eigentümer, Don Newcombe und seine Frau Angela, hatten daraus einen Vorratsraum gemacht.
Auch die übrigen Räumlichkeiten hatten wenig Ähnlichkeit mit meinen vagen Erinnerungen. Der in den Sechziger- und Siebzigerjahren so beliebte Flokati war längst verschwunden, ersetzt von spanischen Bodenfliesen (»Haben wir selbst verlegt«, bemerkte Don.) Die Wohnzimmerwände, ehemals Vinyl mit Ziegel steinmuster, die Dad meiner Erinnerung nach 1975 an nur einem Tag tapeziert hatte, waren von den Tapeten befreit und in weichen Pastelltönen gestrichen. Was auch immer für Eindrücke die Quillens hier hinterlassen hatten, längst waren sie von den Heimverschönerungskonzepten anderer Leute verdrängt worden. Meine Wallfahrt zu dieser Ansammlung von unzählig montierten Gipskartonplatten und Schraubenköpfen kam mir plötzlich albern vor. Dieses Haus hielt keine Antworten bereit, keine Wahrheiten, die meine Fragen zufriedenstellend beantworten würden.
»Wohnen Sie noch hier in Billings?«, fragte Don beim Abschied.
»Nein. In Kalifornien. Ich besuche hier nur meinen Vater.«
»Jedenfalls war es schön, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Kommen Sie gern jederzeit wieder.«
Das war ein freundliches, aber unnötiges Angebot.
Ich mochte die Newcombes, aber ihr Haus war nur eines von Tausenden in Billings. Mehr nicht. Das wusste ich jetzt.
Ich ging zum Wagen und schüttelte den Kopf über meine Naivität.
Ich fand Dad in seinem Fernsehsessel. Er aß gerade Cornflakes mit kalter Milch.
»Wo warst du?«
»Ich bin zum alten Haus gefahren.«
»Zu welchem alten Haus?«
»Zu unserem alten Haus.«
»Das unten am Fluss?«
»Ja.«
»Das habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte er.
»Vor ein paar Monaten war ich schon mal da.«
Dad wirkte erschrocken, was mich wiederum erschreckte. »Warum?«
»Ich denke über die Dinge nach.«
»Das ist eins von deinen Problemen, Mitch. Du denkst zu viel. Schon immer.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Vergiss es einfach.«
Als ob ich das könnte. Als ob ich das je tun würde.
»Nein, Dad, du hast es gesagt, also raus damit. Ich denke zu viel. Schon immer. Was soll das überhaupt heißen?«
Dad stand von seinem Fernsehsessel auf und ging in die Küche, um seine Schale auszuspülen.
»Ich will nicht drüber reden«, sagte er.
Typisch. Er hatte sich mittlerweile einen Sport daraus gemacht, mir gegenüber vage Andeutungen fallen zu lassen, nur um auf Nachfrage einen Rückzieher zu machen: »Ich will nicht drüber reden« oder »Ich hab damit nichts gemeint«. Das wollte ich ihm nicht durchgehen lassen.
»Hör zu, Alter, es gibt eine Menge Dinge, über die wir noch reden, bevor ich zurückfliege, und dies hier ist vermutlich das Einfachste. Also, raus damit!«
Dad reagierte erst gereizt, dann nahm er mich aufs Korn:
»Du willst, dass alles wichtig ist und alles eine besondere Bedeutung hat, doch manche Dinge haben einfach keine«, sagte er. »Manche Dinge passieren einfach. Ich dachte schon, du hättest das inzwischen kapiert, aber du bist immer noch derselbe, mit dem Kopf in den verdammten Wolken.«
»Die Dinge passieren einfach so?«, höhnte ich. »Glaubst du, Mom hat dich aus heiterem Himmel verlassen? Dass das mit Jerryeinfach so passiert ist? Dass all die Jahre, in denen du mich nicht angerufen hast und ich dich nicht besucht
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