Der Sommersohn: Roman
hätten Jerry zusammen in die Welt gesetzt und sollten sich auch gemeinsam von ihm verabschieden. Jedenfalls war ihr Angebot überflüssig. Dad lehnte ab. Er hätte bis ans Ende seiner Tage in seinem Dreck hocken können, hätte er nicht Helen kennengelernt, die ihn wieder aufrichtete und ihm wieder zu bescheidenem Wohlstand oder zumindest Behaglichkeit verhalf.
An all dies dachte ich, als wir über die Schotterpiste rumpelten. Mir war es immer so vorgekommen, als hätte Dad ein größeres Stück vom Kuchen abbekommen, als er selbst uns anderen gebotenhatte, aber jetzt war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Wir kamen auf die Zufahrtsstraße zur alten Ranch, und plötzlich tat mir der Mann leid, der einmal so viel besessen und jetzt so wenig hatte. Mein Mitgefühl empörte mich. Deswegen war ich nicht gekommen.
Das Stahltor, von Dad errichtet, um Unbefugten während seiner langen Abwesenheiten den Zutritt zu verwehren, war fest verschlossen. Wir kletterten aus dem Wagen und ließen unsere Arme auf dem Tor ruhen, während wir den Blick über einen frisch gepflügten angrenzenden Acker schweifen ließen.
»Sieht ganz danach aus, als ob sie ihn für die Weizenaussaat vorbereiten«, sagte Dad.
»Ja.«
Wir schauten noch eine Weile.
»Fehlt dir das, Dad?«
»Das hier?«
»Ja.«
Ein paar Sekunden hatte an der Frage zu knabbern, und ich fragte mich, ob ich die Frage noch bereuen würde.
»Ja. Manchmal.«
»Ich denke oft an das hier.«
»Warum?«
»Hier ist so viel passiert. Hier habe ich zum letzten Mal Marie gesehen.«
»Das ist kein großer Verlust.«
»Stimmt. Aber passiert ist es trotzdem. Denkst du denn nie darüber nach? Über das, was gewesen ist und was hätte sein können?«
Dad bemerkte spöttisch: »Die Dinge entwickeln sich eben einfach so. Das hab ich dir schon oft gesagt, Mitch. Du lebst mit dem Kopf in den Wolken. Es gibt nichts, was dir jetzt weiterhelfen kann, wenn du die Vergangenheit ins Reine bringst.«
Ich stampfte mit dem Fuß auf und drehte mich zu ihm um.
»Ich rede nicht davon, sie ins Reine zu bringen. Das habe ich nicht gesagt. Ich will versuchen, sie zu klären, um zu sehen, wasman daraus lernen kann. Es ist leichter, die Vergangenheit abzutun, wenn sie einem gleichgültig ist. Ist sie mir aber nicht.«
Blitzschnell drehte er sich zu mir um. »Das hört sich danach an, als ob du etwas zu sagen hättest. Warum sagst du nicht einfach, was dich belastet?«
Vielleicht war es das Wort
belasten
. Es klang so ähnlich wie das, was Cindy vor meiner Abreise gesagt hatte: »Den Mann bedrückt doch was. Du musst ihm seine Last abnehmen, wenn du kannst.« Vielleicht war es das jahrelange Herumschleppen meiner Erinnerungen, die ich abwechselnd in meinem Kopf zu sortieren versuchte und deretwegen ich mit mir kämpfte, ob ich sie auf Dad abwälzen und ihn für die Dinge, die er getan hatte, verantwortlich machen sollte. Jedenfalls fasste ich dort auf jener Schotterpiste den Entschluss, falls er nicht preisgeben würde, was ihn bedrückte, dieses große Geheimnis, das mich hierher und von meinem Zuhause und meiner Familie weggelockt hatte, würde ich meinen Kummer rauslassen. Split Rail war nach meiner Vorstellung eine poetische Kulisse für den Showdown.
»Okay. Ich hasse dich für das, was du uns angetan hast, Mom, mir und Jerry. Ich hasse dich für ein paar Wochen vor achtundzwanzig Jahren, die ich nicht aus dem Kopf kriege, egal, was ich tue. Ich hasse es, dass sie und er nicht mehr leben und du derjenige bist, der übrig geblieben ist. Ich hasse es, dass während der ganzen Zeit, die ich dies mit mir rumgeschleppt habe, du mich nicht mal sehen, nicht reinlassen und mir nicht helfen wolltest, damit umzugehen. Selbst jetzt verhältst du dich nach demselben alten Muster. Du verarschst mich doch nur – denn genau das, verdammt noch mal, machst du.«
Dad zitterte. Er ballte die Fäuste. Er durchbohrte mich mit seinem Blick.
»Bist du verdammt noch mal fertig?«, zischte er.
»Noch lange nicht. Ich kann Marie nicht verzeihen. Sie hat dich ausgelaugt. Aber das hast du verdient. Du hast verdient, das zu verlieren, was du verloren hast.«
»Fick dich.«
»Fick dich doch selbst, Dad«, sagte ich. »Für Mom kann ich dir nicht die Schuld geben, aber ich freue mich über jeden Tag, andem sie dich nicht sehen, nicht bei dir sein musste. Ich bin froh, dass sie frei von dir war, als sie starb.«
»Du hast so gut wie keine Ahnung, worüber du redest«, sagte Dad. Sein Körper zuckte.
Ich
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