Der Sommersohn: Roman
Split Rail breitete sich so vor uns aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Die rote Spitze des Dreifuß-Wasserturms mit der Aufschrift SPLIT RAIL. Die Hauptstraße mit einer Tankstelle, der Livery-Bar, einem kleinen Lebensmittelladen, der Genossenschaftsbank der Farmer, dem »Tin Cup«-Diner, einem Vereinshaus, der Schule von Split Rail und dem Wochenblatt
The Standard
. Von den ungefähr vierhundert Einwohnern lebte gerade mal eine Handvoll in vereinzelten Schindelhäusern in der Stadt. Der Rest verteilte sich in der Landschaft wie Weidevieh. Buchstäblich und im übertragenen Sinn lag Split Rail am Ende der Straße. Die staubigen Nebenstraßen, die von der Hauptstraße abgingen, führten zu Farmen und Ranches verschiedener Formen und Größen. Wer Produkte vermarkten wollte, musste sich in südlicher Richtung nach Broadview und zur Eisenbahn wenden. Zum Ausgehen am Abend oder zum Einkaufen war Billings die richtige Adresse.
Das Leben in Split Rail war nicht leicht, und doch schienen sich zumindest die Einheimischen, wie ich mir in Erinnerung rief,damit abgefunden zu haben. Allerdings wurden die wenigen Unverwüstlichen auch belohnt: An einem klaren Tag, wie er uns heute beschieden war, konnte man am Horizont viele Gebirgszüge erkennen – die Snowy, die Little Belt, die Castle, die Crazy und die Bull Mountains. Ich nahm die Szene in mich auf, während ich den Wagen in die Stadt bugsierte.
»Wunderschön«, sagte ich.
»Ja.« Dad klang so überwältigt wie ich.
Ich fuhr langsam die Hauptstraße entlang, bis sie im Nichts endete, dann wendete ich und fuhr sie noch einmal entlang. Der Diner würde erst in einer Stunde zum Abendessen öffnen. Wir sahen ein paar Wagen beim Lebensmittelladen. Ansonsten lag die Hauptstraße ruhig da.
»Ich habe den Weg vergessen«, sagte ich. »Du musst mich ein bisschen lotsen.«
»Wohin?«
»Zur Ranch.«
»Wir können da aber nicht rein.«
»Sehen wir uns das doch trotzdem mal an.«
Dad leistete keinen Widerstand. Nach dem Verlagshaus vom
Standard
deutete er nach rechts, und ich bog auf der Schotterpiste ab. Ziemlich bald lag das eigentliche Split Rail hinter uns, und wir steuerten in das Gewirr von Ranchstraßen, die rings um die Stadt verliefen. Zum ersten Mal, seit wir unseren kleinen Tagesausflug begonnen hatten, wurde mir flau im Magen.
Ich dachte an Dad und seine Ranch und welch bitteren Beigeschmack es für ihn gehabt haben musste, an sie zu denken, geschweige denn, sie zu sehen. Dad verlor sie 1983, sechs Jahre nachdem er sie in einem Freudentaumel und im Geld schwimmend gekauft hatte.
Mom hatte dieses Ende ein, zwei Jahre früher vorausgesagt, allerdings glaube ich kaum, dass sie besonders stolz auf ihren Scharfblick war. Ihr Alarmsignal, dass sich die Dinge für Dad schlecht entwickelt hatten, war 1981 das Ausbleiben der Unterhaltszahlungfür mich. Ein paar Monate kam sie mit Verzögerung, und dann hörte sie ganz auf. Mom und ich brauchten das Geld dringend, aber sie war nicht von der Sorte, die ihm deswegen das Recht verweigert hätte, mich zu sehen. Das änderte wenig; die Luft war sowieso schon raus. Ich war nie hierher zurückgekehrt.
Jahre nachdem Dad die Ranch verloren hatte, als Mom nicht mehr lebte und ein wenig Entspannung auf Distanz zwischen ihm und mir eintrat, redeten wir darüber in einem unserer halbjährlichen Telefongespräche, und Dad hatte es als seine Entscheidung abgetan. Die Ranch sei mit ihren zwei Teilen und über vierhundertfünfundachtzig Hektar zu groß, sagte er. Er wolle näher an der Stadt wohnen, sagte er, und so verkaufte er alles und zog nach Billings. Die amtlichen Unterlagen, in denen ich später nachforschte, ließen etwas anderes vermuten: Insolvenz. Als die Energiekrise kam, hatte er, so lange er konnte, die Hypothek auf der Ranch bedient und versucht, seinen Lebensunterhalt mit Brunnenbau zu bestreiten. Am Ende aber musste er vor dem Ansturm der Gläubiger kapitulieren. Dad verlor den Sattelschlepper, die Ranch, das Boot – sein Lebenswerk. Er verdrückte sich aus Split Rail mit einem altersschwachen Ford und dem alten Holiday Rambler.
Als wir die Meldung über Jerry erhielten, wohnte Dad in einem Trailerpark in Billings und hielt sich mit Arbeitslosenunterstützung und Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Mom bot ihm an, ihm ein Flugticket zu kaufen, damit er zur Beerdigung kommen konnte – eine unnötige Geste, die sie sich auch nicht hätte leisten können. Das sagte ich ihr auch, aber sie meinte, sie und Dad
Weitere Kostenlose Bücher