Der Sommersohn: Roman
Telefon.
»Festtagsbeleuchtung im ganzen Haus ... Nein, sie ist nicht hier ... Hat sie irgendwas gesagt, wohin sie wollte? ... Hat sie viel Zeit hier draußen verbracht? ... Ich habe Mitch bei mir. Kannst du herkommen und auf ihn aufpassen? ... Ich weiß nicht ... Okay, ich warte auf sie.«
»Wer war das?«, fragte ich, nachdem Dad aufgelegt hatte.
»J. C.«
J. C. Simmons und seine Frau LaVerne waren Eigentümer der Nachbarranch. Als Dad seine Ranch gekauft hatte, liefendie Simmons Gefahr, in einem Schuldenmeer zu versinken. Dad rettete sie, indem er eine passive Beteiligung an ihrem Eigentum erwarb. Ihr Teil der Vereinbarung besagte, dass sie sich während seiner Abwesenheit um seine Ranch kümmerten. Sie holten das Vieh von der Weide, breiteten das Heu aus, schnitten im Winter das Eis. Brave Leute waren das, J. C. und LaVerne, und nachdem Dad ihre Farm gerettet hatte, gab es nichts, was sie im Gegenzug nicht getan hätten.
»Wo willst du hin?«, fragte ich. »Darf ich nicht mitkommen?«
Dad stand in der Küche, durchwühlte Schubladen und Papiere auf der Suche nach irgendwas, das Aufschluss über Maries Verbleib geben konnte.
»Nein, Mitch, darfst du nicht. Es war ein langer Tag.«
»Ich bin auch brav. Ich ...«
Dad knallte eine Schublade so heftig zu, dass die Bestecke schepperten.
»Nein, verdammt noch mal! Irgendwer in diesem Haus wird jetzt mal tun, was ich sage.«
Ich rannte in mein Zimmer.
Da war ich immer noch, als LaVerne kam. Ich stand vom Bett auf und kroch zur Tür, öffnete sie nur einen kleinen Spalt, um zu hören, was sie und Dad redeten.
Dad klang erregt, was ich ihm nicht verübeln konnte. Wir hatten einen langen Weg hinter uns, waren mit den Nerven runter, und Marie hatte den Stromzähler laufen lassen, während sie wer weiß wohin getürmt war. Dad sagte zu LaVerne, sie sollte mich fernsehen lassen, bis ich eingeschlafen sei, und fügte noch hinzu, dass sie mich ins Bett schicken dürfe, falls ich mich ungezogen benehmen würde. LaVerne erwiderte, dass sie keine Probleme erwarte.
»Ja, ja, ja«, sagte Dad.
»Jim, das hat sicher nichts zu bedeuten«, sagte LaVerne. »Marie ist wahrscheinlich nur mit ein paar Freunden aus und hat darüber die Zeit vergessen.«
Mein Vater stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Sie wusste, dass ich komme. Ich habe sie aus Pocatello angerufen.«
Ich wartete, bis die Tür zufiel und Dads Stiefel in seinem kurzen, energischen Schritt über die Veranda trampelten und endlich der Motor des Pick-ups anging. Als das Motorengeräusch schwach wurde, öffnete ich die Schlafzimmertür und trat hinaus.
»Du wirst wirklich erwachsen«, sagte LaVerne, erstaunt, wie groß ich in den zwei Jahren geworden war, seit sie mich zuletzt gesehen hatte. »Du bist fast so groß wie dein Dad.«
»Ja.«
Ich sah keine ähnlich einschneidende Veränderung bei LaVerne. Sie musste Mitte vierzig sein und besaß eine natürliche Schönheit, die kein Aufpolieren nötig hatte. Es gibt einen Spruch über Rancherinnen: Mit dreißig sehen sie aus wie fünfzig, und wenn sie achtzig sind, sehen sie aus wie fünfzig. Das traf auf LaVerne zu. Sie trug kein Make-up. Ihr langes, braunes Haar war straff zu seinem Pferdeschwanz zurückgebunden. Rancharbeit in Sonne, Wind und Wetter hatte tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben, was sie aber weniger verhärmt als erfahren aussehen ließ. Ihre tief gebräunten Arme waren muskulös und sehnig. Keine Arbeit auf der Ranch war LaVerne fremd. Ich konnte nicht umhin, sie mit Marie zu vergleichen, die sich ständig so sorgfältig herausputzte. Ich war einer der wenigen, die Marie sahen, bevor sie Gelegenheit hatte, sich zu schminken und zu frisieren, und der Unterschied konnte einem den Atem verschlagen. LaVerne, vermutete ich, sah schon so aus, wenn sie frühmorgens aus dem Bett sprang.
»Wo ist J. C.?«, fragte ich. LaVernes Mann war gut zwanzig Jahre älter als sie und ein lustiger Typ.
»Er hat einige wichtige Dinge zu erledigen. Wir beide sind allein, Kleiner. Was möchtest du tun?«
»Darf ich meine Mom anrufen?«
LaVerne sah auf die Uhr. Es ging auf neun Uhr zu.
»Es ist schon ein bisschen spät«, sagte sie.
»Nicht in Washington. Da ist es eine Stunde früher.«
»Stimmt ja. Na, dann mach mal.«
Mom schien glücklicher als sonst, von mir zu hören.
»Mein Prinz! Wo bist du jetzt?«
»Wir sind heute auf der Ranch angekommen.«
»Eine Woche Ferien, ja?«
»Ja. Morgen kann ich mit meinem Motorrad fahren.«
»Mitch, sei
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