Der Sommersohn: Roman
neun ging Dad weg. »Ich bin bald wieder zurück«, sagte er auf dem Weg nach draußen.
»Bist du sicher, dass du keine Gesellschaft brauchst?«
»Der Rasenmäher und die Harke sind im Schuppen«, sagte er.
Ich schmunzelte. »Ich habs kapiert.«
Ich hörte Dads kleinen Pick-up stotternd zum Leben erwachen und davonrattern, dann kehrte ich zurück zur Morgenzeitung und meiner dritten Tasse Kaffee. Der Vorgarten konnte warten.
Dad hatte seine Mähpflicht vernachlässigt, neben so vielen anderen Dingen, und ich musste dreimal mit dem Rasenmäher drüber, um jeden hohen Grashalm abzusäbeln. Mein Rücken beschwerte sich über das Harken und Eintüten des gemähten Grases, aber daran war ich selbst schuld. Momentan hob ich mehr Gläser als Gewichte, und mein Körper sagte mir lediglich, und zwar in einer Sprache, die ich verstehen konnte, dass ich ein Idiot gewesen war.
In einer Stunde war ich fertig. Das gemähte Gras stand eingesackt und zugebunden bei den Mülltonnen. Ich schleifte die Harke in den Schuppen zurück. Gerade wollte ich abschließen, da fiel mein Blick auf eine Schachtel in den Dachsparren. Mit Filzstift stand darauf in Dads zackiger Handschrift:
Briefe/Papiere
.
Ich spähte nach draußen auf den Weg. Diese Heimlichtuerei kam mir lächerlich vor, doch je länger ich darüber nachdachte, was ich gerade tun wollte, desto mehr schien Vorsicht angebracht. Ichstellte mir eine Frage: Wenn Dad hereinkommen und mich dabei erwischen würde, wie ich in dieser Schachtel herumschnüffele, würde er bestürzt sein?
Trotz der Antwort ging ich in den Schuppen und zog die Schachtel herunter.
Fünfundvierzig Minuten später stand ich im dunklen Schuppen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
Ich kannte Dads Kindheit und Jugend nur in groben Zügen. Er wurde in Havre, Montana, geboren, als einziges Kind von Raymond und Luetta Quillen. Als er achtzehn Monate alt war, starben seine Eltern bei einem Autounfall, Frontalzusammenstoß mit einem Laster. Dad, in einem Kindersitz auf dem Rücksitz, überlebte. Ohne Geschwister oder jemanden, der ihn haben wollte, landete Dad im Waisenhaus St. Thomas in Great Falls, wo er bis zu seiner Volljährigkeit blieb. Dann nahm ihn die Navy. So lautete Dads Geschichte, obwohl er nie mit mir darüber gesprochen hatte. Details schnappte ich nur aus Gesprächsfetzen auf, die ich nicht hätte hören sollen. Als ich mehr über ihn wissen wollte, steuerte Mom ein paar ihr bekannte Fakten bei, um die Lücken zu füllen. Was ich dann aber in der Schachtel entdeckte, änderte alles.
Darin fand ich unter seinen Entlassungspapieren, Informationen über uralte Bankkonten und alten Lohnstreifen einen Packen Briefumschläge, zusammengehalten mit Gummibändern. Jedes Kuvert hatte dieselbe Absenderin, eine gewisse Kelly Hewins, von einem Postfach in Havre, in fein säuberlicher Handschrift.
11. Dezember 1963
Lieber Jimmy,
hoffentlich macht es Dir nichts aus, dass ich Dich aufgespürt habe. Ich will Dich nicht behelligen, wenn Du das nicht möchtest. Deshalb werde ich diesen Brief schreiben und hoffe, dass Du antwortest.
Es ist lange her, dass ich Dich gesehen habe, und ich möchte, dass Du weißt, dass Du mir fehlst. Dick – Du erinnerst dich doch an ihn, ja? – und ich haben vor acht Jahren geheiratet. Wir haben zwei kleineMädchen, Kathy und Kelly (nach mir!), und ein drittes ist unterwegs.
Es wäre so schön, Dich wiederzusehen und zu hören, was Du die ganze Zeit so getrieben hast.
Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr!
Bitte ruf an oder schreib.
In Liebe
Kelly
13. Juni 1968
Lieber Jimmy,
Dick und ich waren übers Wochenende in Billings und haben die Geburtsanzeige von Deinem kleinen Jungen in der Zeitung gelesen. Wir wussten ja nicht mal, dass Du geheiratet hast. Es ist großartig, dass Du einen Sohn hast. Und Mitchell ist ein schöner Name. Glückwünsche an Dich und Leila.
Ich hoffe immer noch, dass ich eines Tages ans Telefon gehe und Du am anderen Ende bist oder dass ich einen Brief von Dir aus dem Briefkasten fische. Ich würde so gern mit Dir reden, Dich sehen, Dich neu kennenlernen. Ich weiß aber auch, warum Du das vielleicht nicht möchtest.
Wir sind immer noch da, wo wir immer waren, falls Du Deine Meinung je änderst. Wir haben jetzt vier Kinder. Unsere Älteste, Kathy, ist 11 – wie ist das bloß möglich? Dann haben wir noch Kelly (9), Coby (4) und Charles (2). Wir haben genug, glaube ich. Hoffe ich.
In Liebe
Kelly
4. August 1976
Lieber
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