Der Sommersohn: Roman
für selbstverständlich nahm, und ich bewunderte sie dafür, dass sie dank harter Arbeit, Verstand und Tapferkeit in der Lage waren, sich eine völlig neue Existenz aufzubauen. Darum näherte ich mich ihrem Grund und Boden – denn er gehörte ihnen viel mehr als Dad oder Marie oder mir – mit einer gewissen Ehrfurcht.
Als mein Motorrad einen kleinen Hügel erklomm und das alte Haus vor mir auftauchte, sah ich, dass sich wenig verändert hatte. Das alte Gebäude schien sich für ein weiteres Jahrhundert gerüstet zu haben für das, was Mensch und Natur ihm entgegenzuschleudern gedachte. Ich hielt dort an, wo einmal die Tür gewesen sein musste, und schaltete die Honda aus. Ich setzte den Helm ab und ging mir das alte Haus noch einmal ansehen, ein weiterer Besuch einer Zeit und eines Ortes, die ich sehen und fühlen konnte, die ich mir aber erst wieder vorstellen musste, um sie zum Leben zu erwecken.
Ich fuhr die hintere Grenze der Ranch ab und machte einen Bogen um das weidende Vieh. Als ich die Nase des Motorrads zum Haus hin drehte, hielt ich inne. Vor mir glitt eine Klapperschlange über den doppelt gefurchten Weg in Richtung Felsen.
Ich startete die Honda und verfolgte die Schlange, und das widerwärtige Zusammenfallen ihres Kopfes, als meine Reifen ihn trafen, ließ mich erschaudern. Am Ende des Weges riss ich die Maschine herum, um nachzusehen. Ich hielt ein Stück weit entfernt und zollte der Schlange gebührenden Respekt, obwohl sie ganz sicher tot war. Ich beobachtete den Körper einige Minuten, bis ich mich davon vollkommen überzeugt hatte. Nur zu gut erinnerte ich mich an meine frühere Begegnung mit einer ihrer Schwestern in Utah. Diese Schlange war kleiner, eine junge Westliche Klapperschlange in einer dunkelbraunen Farbe, die ich wohl kaum gesehen hätte, wenn sie mir woanders begegnet wäre. Das war zwar gut für Schlangen, aber nicht so gut für ahnungslose Eindringlinge.
Langsam kam ich näher. Die Schlange war mausetot und trotzdem drehte sich mir der Magen um. Ich wusste, dass das dumm war, aber ich befürchtete, dass sie sich nur tot stellte und darauf wartete, dass ich näher kam, damit sie ihre Zähne blecken und sich rächen könnte. Das war albern. Größer als die Angst der Menschen vor Schlangen ist nur die Angst der Schlangen vor den Menschen. Hätte ich ihr einen Ausweg eröffnet, sie hätte ihn bestimmt genommen. Ich hatte gelesen, dass manche Klapperschlangen, wenn sie gezwungen waren, Menschen anzugreifen, trockene Bisse ausführten, um ihr Gift für ihre eigentliche Beute aufzusparen. Wenn man es sich recht überlegt, beweisen Schlangen sehr viel mehr Vernunft als Menschen. Sie verbrauchen Energie bei der Futtersuche, sie bleiben für sich, und sie geben sich große Mühe, einem Kampf auszuweichen.
Als sich diese Gedanken in meinem Kopf drängten, quälten mich plötzlich Gewissensbisse, weil ich das Leben dieses Geschöpfs so unbekümmert ausgelöscht hatte. Sie hatte sich lediglich nach Schlangenart verhalten, und ich war dahergekommen und hatte sie getötet. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, ihr Würde zugeben. Bei laufendem Motor stieg ich ab, ging die letzten Schritte bis zum Schlangenkörper und kickte ihn von der Straße.
Als ich auf den Haupthof donnerte, winkte ich Dad zu, dessen Kopf in den Eingeweiden eines Traktors steckte. Ich schaltete das Motorrad aus und stürmte die Verandatreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend.
Ich stürzte gerade das dritte Glas Wasser hinunter, als Marie neben mir auftauchte.
»Was ist los mit Jerry?«, fragte sie.
»Er ist bei den Marines. Das hat Mom mir erzählt.«
»Bei den Marines? Warum?«
»Das ist vermutlich das, was er machen wollte.«
Marie runzelte die Stirn.
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Einen Tag arbeitet er für Jim und hat eine Freundin da drüben in Milford. Am nächsten Tag ist er bei den Marines. Was war denn da unten los?«
»Nichts. Er und Dad kamen nicht miteinander aus, und er hat aufgehört.«
»Das glaube ich nicht.«
Hätte ich geahnt, dass hinter Maries Fragen Sorge um Jerry steckte, hätte ich ihr wahrscheinlich mehr erzählt – bestimmt nicht die ganze Geschichte, aber doch etwas, was der Wahrheit näher gekommen wäre. Ich dachte, dass sie Munition gegen Dad sammelte und dass sie noch genügend ohne mich finden würde.
»Ob du das glaubst oder nicht – so war es.«
Ich stellte mein Glas ab und ging zur Tür.
Ich fuhr bis ans Ende der Zufahrtsstraße zur Ranch, etwa
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