Der Sommersohn: Roman
Jimmy,
wir kommen nicht sehr oft nach Billings, und wie es scheint, erfahren wir dann jedes Mal was Neues über Dich. Du hast wieder geheiratet? Wir wünschen Dir viel Glück.
Kathy ist seit einem Jahr auf dem College in Missoula. Kelly kommt als Nächste dran. Die anderen Kinder werden ihnen wohl baldfolgen. Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug. Dein Junge wird jetzt sicher auch schon groß sein. Es geht alles so schnell.
Heute wurde mir bewusst, dass es mittlerweile 22 Jahre her ist, seit ich Dich gesehen oder von Dir gehört habe. Ich hoffe, es vergeht nicht noch viel mehr Zeit, bevor Dein Herz weich wird. Du fehlst mir.
In Liebe
Kelly
9. Februar 1980
Lieber Jimmy,
Du bist schwer aufzuspüren. Die letzten paar Briefe, die ich an Deine Adresse in Billings geschickt habe, sind zurückgekommen.
Ich hab mir gedacht, ich lass es Dich wissen. Gestern haben wir Dana beerdigt. Sie war das ganze letzte Jahr krank und ist schließlich eingeschlafen.
Ich weiß, wie Du zu ihr und ihm gestanden hast und vielleicht auch zu mir. Ich kann es Dir wohl kaum verdenken.
Ich hatte halb erwartet, Dich auf der Beerdigung zu sehen, obwohl ich weiß, dass es absurd ist. Jedenfalls wollte ich es Dich wissen lassen.
In Liebe
Kelly
21. Dezember 1982
Lieber Jimmy,
frohe Weihnachten! Die ganze Familie ist zu diesem Fest wieder zusammen. Kathy und ihr Mann Dan und ihre beiden Kinder sind hier. Sie wohnen in Portland. Kelly ist aus Boston gekommen. Coby und seine Frau und ihr kleines Baby sind aus Billings da. Charles, der in seinem zweiten Studienjahr an der Montana State University ist, kommt auch her.
Du weißt, dass Du nur wenige Stunden weit weg bist. Falls Du Weihnachten kommen möchtest, bist Du uns herzlich willkommen.
In Liebe
Kelly
2. Juni 1986
Lieber Jimmy,
das hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber ich bin immer wieder in die Bibliothek gegangen und habe Zeitungen aus dem ganzen Bundesstaat gelesen, um etwas über den Schulabschluss Deines Jungen zu finden. Mitchell muss jetzt doch 18 sein, nicht? Ich würde ihm gern eine Karte schicken. Es bricht mir das Herz, dass ich ihn nie kennengelernt habe. Noch mehr bricht es mir das Herz, dass es mehr als 30 Jahre her ist, dass ich Dich gesehen habe. Ich frage mich, wie lange ich mir noch die Mühe machen soll, Dir Briefe zu schreiben, wenn sie doch nie beantwortet werden.
Was Dir angetan wurde, tut mir leid. Ich würde alles dafür geben, wenn ich das irgendwie gutmachen könnte. Du wirst Dich erinnern, dass ich auch da war. Ich habe auch gelitten. Ich weiß nicht, wozu es gut sein soll, die ganze Welt auszuschließen, Jimmy.
In Liebe
Kelly
14. April 1991
Lieber Jimmy,
es tut mir leid, dass ich so lange nicht geschrieben habe.
Dick ist letztes Jahr gestorben. Es war sehr schlimm. Er ist auf der Arbeit tot zusammengebrochen. Er fehlt mir so sehr. Er war ein guter Mann und ein guter Familienvater.
Ich war lange Zeit deprimiert. Charles hat für einen Steuerberater in Denver gearbeitet, aber er ist jetzt wieder nach Havre zurückgezogen und hat hier sein eigenes Büro eröffnet. Er wohnt in meiner Straße und kümmert sich um mich, obwohl ich allmählich wieder zurechtkomme. Ich habe gute Freunde und gute Kinder, und es wird schon wieder.
Hoffentlich hat das Leben es gut mit Dir gemeint.
In Liebe
Kelly
1. Juni 1994
Lieber Jimmy,
bedeutet Dir dieses Datum etwas? Mir schon. An diesem Tag hast Du Havre verlassen und bist in die Navy eingetreten. Als ich Dich das letzte Mal sah, vor 40 Jahren. Wann endet dieses Schweigen?
In Liebe
Kelly
3. März 2002
Lieber Jimmy,
ich kann so nicht weitermachen. Ich habe Dir so viel Raum gegeben, wie ich nur kann, in der Hoffnung, dass Du mir auf halbem Weg entgegenkommst. Jetzt erst begreife ich, dass Du das nie tun wirst. Ich halte mich daher an Deine Wünsche und werde mich nicht wieder bei dir melden.
Ich liebe Dich. Ich habe Dich von jeher geliebt und werde es immer tun.
Kelly
Ich befühlte die Briefe und las alle noch einmal. Kelly? Dana? Wer waren diese Leute?
Der Schmerz, der aus den Briefen tropfte, setzte mir zu. Kelly, wer auch immer das sein mochte, steckte auf der anderen Seite von Dads Mauer fest, in der so viele von uns, die sich um ihn sorgten, schweigend ihre Zeit absaßen.
Ich wollte gerade tiefer in der Schachtel wühlen, als ich zum Glück aber kurz hochschaute und den Truck des Alten auf den Wohnmobilplatz fahren sah. Schleunigst stopfte ich alles wieder in die Schachtel und schob sie
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