Der Sommersohn: Roman
einige Aufgaben auf mich warteten, sobald ich zurückkäme.
»Mitch«, sagte Kelly, »wirst du Jimmy erzählen, dass du mit mir gesprochen hast?«
Ich erzählte ihr vorweg von seiner Reaktion darauf, dass ich die Briefe gefunden hatte, und sie weinte erneut.
»Ich bin zwar schon in Ungnade gefallen, aber ja, ich sag es ihm. Es kommt nicht mehr darauf an, wenn ich noch tiefer bohre.«
»Dann gibts da etwas, was du wissen solltest.«
»Was denn?«
»Ich weiß, warum Jimmy nicht mit mir reden will. Er schämt sich.«
»Ich verstehe ja, dass er sich schämt. Aber nicht über fünfzig Jahre langes Schweigen.«
Die Stimme versagte ihr.
»Es steckt viel mehr dahinter.«
»Viel mehr was?«
Sie verstummte.
»Kelly?«
»Mitch, du musst es wissen. Homer hat ihm in der Scheune Schlimmes angetan.«
Meine Muskeln erschlafften.
»Was? Was denn Schlimmes?«
»Jimmy kam manchmal ins Haus und ging einfach an mir vorbei, als ob ich Luft wäre. Wenn ich ihm in die Augen sah, war es wie der Blick in eine Grube. Er war gar nicht drin, verstehst du?
Wir haben uns immer Mut zugesprochen. Wenn es schlimm wurde, haben wir uns gegenseitig getröstet und versucht, uns nicht unterkriegen zu lassen. Aber dann wieder gab es Tage, an denen ich nicht zu Jim durchdringen konnte, dann fühlte ich mich ganz allein, weil Jimmy so abwesend war.«
Sie weinte.
»Ich hab die Wäsche gemacht. Manchmal hab ich Blut in Jimmys Unterwäsche entdeckt.«
»Allmächtiger!«
Sie flüsterte. »Ja.«
»Mein Gott!«
»Einmal hat Jimmy zu mir gesagt: ›Ich bringe diesen Scheißkerl um!‹ Das erschütterte mich total, denn ich wusste, dass er es möglicherweise tun und bei dem Versuch umkommen würde.«
Ich schluckte die aufsteigende Galle hinunter.
»Meintest du vorhin nicht, es ergäbe keinen Sinn, beides zu beweinen, als Jimmy wegging?«, sagte Kelly. »Jetzt ist es aber doch logisch. Jetzt verstehst du es, ja?«
Ja, das konnte ich. Am letzten warmen Tag des Jahres durchfuhr mich ein eiskalter Schauer, ausgelöst durch all die Dinge, die ich einst sehnlichst hatte wissen wollen und von denen ich mir jetzt wünschte, sie nie gehört zu haben.
SPLIT RAIL | 1. JULI 1979
Dad bezahlte die Rechnung, und wir traten in die Dunkelheit hinaus. Wie ein Magnet hatte der Sommerabend die Leute von Split Rail in die Stadt gezogen. Dad tippte grüßend an seinen Hut, wenn ältere Damen auf dem ausgetretenen, unebenen Gehweg an uns vorbeieilten. Sie lächelten uns flüchtig zu und setzten ihr Geschnatter fort. Wir gingen weiter.
Aus der Richtung des kleinen Stadtparks – einer Grünanlage mit Schaukeln und einem Basketballkorb – hörte ich Kinderlachen und es roch nach gegrillten Burgern. Ich wollte zum Park, aber Dad hatte andere Pläne.
»Hier entlang«, sagte er, drückte meine rechte Schulter und drehte mich um. Im Sog eines vorbeigefahrenen Pick-ups liefen wir quer über den Asphalt zum Eingang des Livery.
Viele Männer aus der Stadt und einige der mutigeren Frauen hatten an dem Abend ihren Weg in die Bar gefunden. Als Dad mit mir im Schlepptau eintrat, sah ich, dass er es geschafft hatte, Freundschaften in der Stadt zu schließen, nach den vielen Händen zu urteilen, die sich zum Gruß erhoben.
»Jim.«
Der Inhaber kam hinter der Theke hervor und steuerte auf uns zu. Er war ein kleiner Mann mit stämmigen Beinen, die doppelt so schnell arbeiteten, um ihn zu uns zu bringen. Die Äuglein zwinkerten,und er wischte an seinen Schweißperlen, die sich auf seiner Glatze zur Polonaise formierten.
»Jim, schön, dich zu sehen. Aber er darf hier nicht rein.« Er zeigte auf mich.
»Nick, das ist Mitch«, sagte Dad. »Mitch, Nick Geracie.«
Ich nickte dem Mann zu, der mich nervös zuckend ansah.
»Freut mich, dich kennenzulernen, junger Mann«, sagte er. »Jim, er darf hier nicht rein.«
Mein Vater fasste Nick an die Schulter. »Wir hatten einen ganz schlimmen Tag, Nick, es war die Hölle. Die Frau ist weg« – die Cowboys in unmittelbarer Nähe hörten uns jetzt zu –, »und jetzt sind wir nur unter uns Männern.«
»Ja, also ...«
»Hat dich deine Frau je verlassen, Nick?«
»Nein.«
»Na, dann muss ich dir mal was sagen. Besonders lustig ist das nicht.«
»Sicher nicht, aber ...«
»Ich bin gekommen, um mir eine flüssige Medizin zu holen, wenn du weißt, was ich meine.«
»Jim, der Junge darf hier nicht rein.«
Dads Augen weiteten sich. Ich hatte das schon miterlebt. Nick wusste nicht, dass er die Zielscheibe des Spotts
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