Der Sommersohn: Roman
aufgelegt.
»Hallo«, sagte sie noch einmal.
»Kelly Hewins?«
»Ja.«
»Mein Name ist Mitch Quillen. Kennen Sie mich?«
Schweigen schlug mir entgegen. Vier, fünf, sechs Sekunden Schweigen. Ich hielt das Telefon von meinem Ohr weg, um festzustellen, ob ich noch verbunden war.
»Hallo?«
»Ich weiß, wer du bist.« Die klare Stimme wurde undeutlich. Sie sagte: »Ich habe immer gehofft, von dir zu hören.«
»Ich habe Ihre Briefe an meinen Vater gefunden.«
Ihre Stimme stockte. »Ist Jimmy tot?«
»Nein«, sagte ich. »Er ist noch hier in Billings.«
»Ach, gut! Wohnst du auch in Billings?«
»Mrs Hewins, ich will nicht unhöflich sein. Aber wer sind Sie?«
»Jimmy hat es dir nicht erzählt?«
»Nein.«
Sie hielt inne. »Ich bin deine Tante. Jimmys Schwester.«
»Was?«, fragte ich.
»Ich bin Jimmys Schwester.«
Ich hatte Mühe, das Auseinanderstieben meiner Gedanken zu drosseln.
»Seine Eltern sind tödlich verunglückt. Er war ein Einzelkind.«
»Ja, ich weiß. Er und ich wurden aus dem St.-Thomas-Heim in Great Falls adoptiert.«
»Davon hab ich nie was gehört. Er hat gesagt, dass er im Waisen haus war, bis er zur Navy ging.«
»Also, ich muss dir leider sagen, dass das nicht stimmt. Jimmy und ich sind hier auf der Farm aufgewachsen.«
»Warum hätte er mir das denn nicht erzählen sollen?«
»Tja, Mitch, das weiß ich nicht. Aber ich hab so ein paar Ideen.«
Das hier war offenbar nicht mehr als eine weitere Lüge von Jim Quillen. Ich sprach mit meiner Tante, einer Verwandten, die ich nur entdeckt hatte, weil ich mich in Dads Angelegenheiten eingemischt hatte. Die Zeit und die Umstände hatten mir so viele Menschen weggenommen, und hier war jemand, den ich gefunden hatte. Ich schäumte, weil Dad für sich allein befunden hatte, dass ich sie nicht zu kennen brauchte.
Kellys Worte im Ohr, fixierte ich die Menschen im Park mit einem langen Blick, der ihre Bewegungen wie in Zeitlupe wiedergab. Sie liefen durch die Details ihres Lebens, nicht ahnend, dass durch meines ein frisches Loch geschossen worden war.
»Okay«, sagte ich. »Was für Ideen sind das denn?«
»Mitch, ich erzähle dir alles, was ich weiß – hinterher.«
»Hinterher?«
»Nachdem du mir alles über Jim erzählt hast. Ich habe ihn seit 1954 nicht gesehen.«
Ich zeichnete den Vater, den ich kannte, in groben Zügen; eine Aufgabe, der ich angesichts meiner spärlichen Kenntnisse jedoch kaum gewachsen war. Ich schilderte Kelly, wie er und Mom sich kennengelernt hatten. Ich erzählte von Jerrys Geburt 1960, von meiner eigenen mehrere Jahre später, der Scheidung, den fetten Jahren, den mageren Jahre, als er und ich nie miteinander sprachen, den Jahren, als er Helen heiratete und der Frost zwischen uns zu einem stürmischen Frühling von gelegentlichen Anrufen taute.
Kelly erwies sich als gute Zuhörerin und Fragestellerin. Sie sprach mir ihr Beileid aus, wo ich das erwartete, zum Beispiel, als ich ihr von Jerrys und Moms Verlust erzählte, und an anderen Stellen wollte sie unbedingt Einzelheiten erfahren, von denen ich nichts wusste.
»Hat Leila jemals was von uns erwähnt? Ich habe über Jahre all die Briefe geschrieben und halb gehofft, dass sie oder ... wie hieß noch mal die zweite Frau?«
»Marie.«
»Dass sie oder Marie ihn dazu ermuntern würden.«
»Keine Ahnung. Mom wusste, was Dad ihr erzählt hatte, aber mit mir hat sie nie darüber geredet. Marie? Keine Ahnung. Ich habe sie seit knapp dreißig Jahren nicht gesehen oder gesprochen.«
»Es spielt auch keine Rolle«, sagte Kelly. »Ich habe nie von ihnen gehört. Oder von ihm.«
Schließlich erzählte ich Kelly von den Anrufen, die mich nach Billings geführt hatten – meinen Ehekonflikt ließ ich aus –, und wie ich ihre Briefe gefunden hatte.
»Noch etwas«, sagte ich. »Es ist verdammt frustrierend, sein augenblickliches Problem ergründen zu wollen und warum vor all den Jahren sich die Dinge so abgespielt haben, und jetzt kommt dies neue Zeug dazu. Ich versuche immer wieder, ihm näherzukommen, und am Ende entferne ich mich immer mehr von ihm.«
Kelly lachte, aber nicht in einer Art, die darauf hätte schließen lassen, dass sie das komisch fände, was ich gesagt hatte.
»Du bist nicht allein«, sagte sie. »Als Jimmy die Farm verließ, sagte er uns, er würde nie zurückkehren und dass wir sein Gesicht nie wiedersehen würden. Nachdem er weg war, ging ich in den Keller und weinte, bis ich keine Tränen mehr übrig hatte.«
»Warum?«
»Weil
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