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Der Sommersohn: Roman

Der Sommersohn: Roman

Titel: Der Sommersohn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Lancaster
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der Polizist und ergriff meine ihm schüchtern hingehaltene Hand. »Ich bin Charley Rayburn.«
    »Er ist der Polizeichef«, sagte Dad.
    »Jawoll«, sagte Charley. »Und der Hundefänger. Und der Bürger meister. Und anscheinend ein lausiger Weizenfarmer.«
    Ich brachte im Gegenzug ein piepsiges »Hallo« heraus.
    »Wo ist denn Jerry?«, wandte sich Charley wieder an Dad.
    »Bei den Marines. Die Arbeit war ihm zu schwer.«
    »Dann wird er sich aber noch wundern, was?« Beide lachten.
    »Und Marie?«
    »Die ist auch weg«, sagte ich. Charley klopfte Dad auf die Schulter. »Du verlierst Leute links und rechts. Behalte diesen jungen Mann mal lieber im Auge.«
    »Darauf kannst du Gift nehmen.« Dad verbiss sich weitere Kommentare.
    »Na denn, bis bald!«, sagte Charley und setzte sich die Mütze auf die Stoppelhaare. »Ich muss meine Streife fahren.«
    Dad sah zu, wie Charley sich einen Weg durch das Lokal und zur Tür hinaus bahnte. Dann wandte er sich mir zu.
    »Iss auf, Mitch, und behalte den Mund immer schön voll. Ich will nicht, dass noch mehr Worte rauskommen.«

BILLINGS | 22. SEPTEMBER 2007
    Als ich ins Wohnzimmer kam, stand Dad auf und kreuzte meinen Weg in die Küche. Ich folgte ihm zum Kühlschrank. Er drehte sich zum Esszimmertisch um. Ich schenkte mir ein Glas Orangensaft ein und begab mich schnurstracks zum Platz ihm gegenüber. Dad stand auf und huschte ins Wohnzimmer zurück.
    So schlichen wir den ganzen Vormittag umeinander herum, wortlos. Erst als ich mit meinen Schlüsseln klimperte und die Hand nach der Tür ausstreckte, sprach Dad.
    »Wo willst du hin?«
    »In den Lebensmittelladen.«
    »Brauchst du Geld?«
    »Ich habe genug.«
    Im Pioneer Park ließ ich mich an einem Picknicktisch nieder, fern von den Spaziergängern und dem Spielplatzlärm und den steten Schlägen der Tennisspieler, die sich von einem sonnigen Tag hatten anlocken lassen. Angesichts dessen, was ich mir vorgenommen hatte, brauchte ich die Abgeschiedenheit an solch einem öffentlichen Ort.
    Die Nummer, die ich von der Auskunft erfragt hatte, stand in meiner linken Hand: 406-794-1978.
    Mein Telefon lag in der rechten, aufgeklappt und bereit.
    Ich konnte mich nicht dazu überwinden, die Nummer zu wählen.
    Ich klappte das Handy zu und stand auf. Ich brauchte erst mal Bewegung, wenn nicht gar was Hochprozentiges.
    Ich versuchte, die Situation logisch zu durchdenken, obwohl die Umstände sich der Logik widersetzten. Der Park blieb hinter mir zurück, als ich auf dem Hügel ankam. Auf dem ganzen Weg spielte ich das Für und Wider durch.
    Irgendwie hatte Dad ja recht, wenn er sagte, es sei sein Leben. Wenn es Dinge gab, die er für sich behalten wollte, wie kam ich dazu, ihm zu widersprechen?
    Und dennoch ging alles, was an meiner Familie verkorkst war – an der, in die ich geboren worden war, und jetzt an meiner eigenen – auf Geheimnisse zurück. Manche Dinge müssen ans Tageslicht gezerrt werden. Dies, da war ich mir sicher, war eines von jenen Dingen.
    Okay, aber was war mit dieser Kelly? Sie hatte sich vor Jahren verabschiedet und erklärt, für sie sei Schluss. Was, wenn sie mit dieser Phase ihres Lebens abgeschlossen hätte? Was, wenn es eine Einmischung wäre, ihr jetzt damit zu kommen?
    »Hör auf!«, sagte ich laut. Sie hatte sich ja nicht aus Mangel an Interesse zurückgezogen. Ich musste ja nur ein paar Tage zurückdenken. Da war ich doch der Typ, der ein Haus in Augenschein nahm, das ich kaum kannte, in einer flügelschlagenden Hoffnung, ein tieferes Verständnis nicht nur meines eigenen, sondern auch des Lebens meiner Lieben zu finden. Glaubte ich wirklich, sie hätte aufgegeben?
    Ich hörte meine eigene Stimme in meinem Kopf: »Wenn du da jetzt nicht anrufst, reist du auf der Stelle ab. Du gehst zurück, drückst deinen alten Herrn, packst deine Sachen und bewegst deinen Arsch von hier weg. Hier gabelt sich der Weg. Geh weiter oder geh nach Hause. Glaubst du, dass du je Frieden findest – mit ihm, mit Cindy, mit dem Rest deines Lebens –, wenn du das tust?«
    Ich joggte zum Picknicktisch zurück.
    Obwohl ich fest entschlossen war, starrte ich weitere zwanzig Minuten das Telefon an, spielte durch, was ich sagen wollte und wie ich,falls nötig, zurückrudern würde, listete meine Fragen (viele) auf und meine Antworten (wenige). Endlich tippte ich die Nummer ein.
    Schon beim ersten Klingeln antwortete jemand. Eine freundliche Frauenstimme, brüchig vom Alter, grüßte mit einem »Hallo«, und ich hätte beinahe wieder

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