Der Sommersohn: Roman
einer grünen Esche hockte.
Ich sah, wie Jeff die Flinte hob und zielte. Bevor ich meinen Protest herausbrachte, drückte er ab und erschoss den Vogel. Der Körper fiel vom Ast zu Boden.
»Mit nur einem Schuss!«, quiekte Jeff. Er rannte los, um nachzusehen, was er getan hatte. Ich folgte, verblüfft, wie schnell das passiert war.
Die Kugel hatte den Vogel unter dem Auge getroffen und das Gefieder blutig zerfetzt, dass Haut zu sehen war. Das noch offene Auge starrte uns an.
»Das war geil!«, krähte Jeff. »Hast du das gesehen? Mit einem Schuss!«
»Warum?« Ich stieß ihm die Hand vor die Brust, und er ließ das Gewehr fallen.
»Wie meinst du das?«
»Warum schießt du denn auf so ein kleines Vögelchen?«
»Warum nicht? Wir haben doch den ganzen Morgen auf alles Mögliche geschossen.«
»Ja, auf Nagetiere. Nicht auf Vögel. Sieh ihn dir an!«
»Ach, Mensch, krieg dich wieder ein. Ich habs nicht so gemeint.«
Ich stieß ihn noch mal. »Das war doof.«
»Okay, Mann, reg dich ab.«
Ich stieß ihn noch mal, und Jeff wurde wütend.
»Hör auf, mich zu stoßen, Mitch.«
Ich wollte ihn noch mal stoßen, doch sobald meine Finger seine Brust berührten, verpasste Jeff mir einen Kinnhaken. Zuersttat es nicht weh, aber meine Beine wurden wie Gummi, als mein Gesicht zu brennen anfing. Jeff packte mich am Hemd und schüttelte mich. »Ich will mich nicht mit dir kloppen, Mitch, aber hör auf, mich zu stoßen. Tut mir leid, dass ich den Vogel getötet habe. Okay?«
»Okay«, sagte ich.
Sobald er wieder losließ, rannte ich den Hang hinunter. Als ich das Motorrad kickstartete, dämmerte Jeff, was ich vorhatte. »Hey!«, sagte er, aber da spuckte bereits der Staub auf dem Weg zurück zum Haus. Ein Fußmarsch würde ihm guttun. Jeff hatte zwar behauptet, dass es ihm leidtat, aber wenn er den ganzen Weg zu Fuß ginge und das abkriegte, was sich da oben am Himmel für ihn zusammenbraute, konnte ich sicher sein, dass das auch wirklich stimmte.
LaVerne Simms sah mich von der Seite an, als ich eintrat.
»Wo ist Jeff?«
»Er kommt. Er wollte zu Fuß gehen.«
Sie schmunzelte auf eine Art, die andeutete, dass meine Erklärung sie nicht zufriedenstellte.
»Hoffentlich beeilt er sich. Sieht schlecht aus da draußen.« Sie vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Ich trat näher.
»Was liest du denn da?«
Sie hielt das Buch hoch, und ich las den Titel laut vor. »Des Lebens bittere Süße von Barbara Taylor Bradford. Gefällt es dir?«
»Es ist gut«, sagte sie. »Spannend.«
»Würde mir das auch gefallen?«
Sie lachte. »Vielleicht. Aber ich bezweifle das.«
»Ich lese gern«, sagte ich.
LaVerne sah mich über ihre Brillengläser an.
»Ja, Mitch. Ich auch.«
Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Ich setzte mich ihr gegenüber und massierte mir das schmerzende Kinn.
Jeff schleppte sich etwa eine Viertelstunde später rein. Das regennasse Haar klebte an seinem Kopf, sein T-Shirt und seine Hose waren klitschnass.
»Um Himmels willen, Junge, komm rein!«, sagte LaVerne. Sie stand auf, übertrieben besorgt um ihn. »Wie siehst du denn aus?«
»Der Regen hat mich voll erwischt«, sagte er und schnappte nach Luft.
»Warum bist du denn zu Fuß gegangen? Hast du ihn nicht kommen sehen?« Wie jeder Rancher wusste auch LaVerne, was ein Unwetter im Sommer mit sich bringen konnte. Der Regen speiste zwar die Erde, aber wehe denen, die keinen Schutz vor den zuckenden Blitzen fanden. Ich wusste aus Erfahrung, dass ein Cowboy nicht nur zum Himmel aufblickte, um die Uhrzeit zu schätzen, sondern auch, um auf einen nahenden Sturm zu achten. Gewitter brachen aus und zogen schnell weiter, aber sie konnten in der kurzen Zeit sehr großen Schaden anrichten.
»Ich habe dir doch gesagt, dass er zu Fuß gehen wollte«, sagte ich mit einem raschen Seitenblick auf Jeff.
»Ja, stimmt«, sagte er. »Hab eben nicht nachgedacht.«
»Nein, echt nicht«, sagte LaVerne, schnalzte mit der Zunge und ging nachsehen, ob sie trockene Sachen für Jeff finden konnte.
LaVerne briet Hamburger und selbst gemachte Fritten, und ich langte tüchtig zu beim ersten anständigen Essen, das ich in dieser Woche bekam. Jeff sprach nicht mit mir, und das war auch gut so. Er hatte sein Fett weg.
Jeff hatte Glück gehabt; er war aus dem Unwetter mit nassen Kleidern und verletzten Gefühlen davongekommen. Je länger wir dort saßen, desto mehr bedauerte ich, ihn im Stich gelassen zu haben, selbst wenn ich sauer über das war, was er getan hatte. Er musste
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