Der Sommersohn: Roman
da.«
»Mitch«, sagte Cindy, »mach mal halblang und denk malgründlich darüber nach. Das wäre besser, denn du bist noch nicht für ihn bereit. Du darfst das nicht vermasseln, indem du dich auf ihn stürzt. Nicht jetzt.«
»Ich weiß. Ich gehe hier die Wände hoch, bis er wiederkommt. Und was dann?«
»Dann ruf mich heute Abend an und berichte mir.«
»Mach ich.«
Ich fand einen Zettel für mich auf dem Küchentisch.
Mitch –
das ist die längste Einkaufstour, die ich je erlebt habe. Habe so lange gewartet, wie ich konnte. In ein paar Stunden bin ich zurück.
Wir müssen miteinander reden.
Dein Dad,
Jim
Ich war eine ganze Weile fort gewesen. Ein paar Stunden ab wann? Das ließ sich nicht feststellen. Ich folgte dem Rat meiner Frau, ließ mich im Fernsehsessel nieder und dachte über meine spärlichen Alternativen nach.
Ich hatte Kelly versprochen, Dad von unserem Telefonat zu erzählen, aber die schlichte Tatsache, dass Kelly über fünfzig Jahre die Flamme nicht hatte erlöschen lassen, war bestenfalls nebensächlich. Ich würde ihm erzählen, dass ich mit ihr gesprochen hatte, aber wie sollte ich dabei vorgehen, das war die große Frage.
Wie viel von unserem Gespräch sollte ich preisgeben? Es war eine grausame Ironie des Schicksals zu entdecken, dass ich mich möglicherweise vergebens mein Leben lang danach verzehrt hatte, einen Zugang zu ihm zu finden, nachdem ich erfahren hatte, was das bedeutete. Einen Nachmittag lang wusste ich jetzt von Dads Bürde, und das hatte alles andere aus meinem Kopf verdrängt. Wie hatte er es so lange tragen können?
Ich ließ die Jahre Revue passieren, zog Erinnerungsfetzen hervor und hielt sie gegen das Licht, um zu prüfen, ob ich versteckt inden Szenen und Geräuschen, die ich gespeichert hatte, verschüttete Wahrheiten erkennen konnte. Die Bilder und Momentaufnahmen waren mit meinen Fingerabdrücken übersät, so häufig hatte ich sie zurückverfolgt, und ich wühlte immer noch in ihnen herum und betrachtete sie aus anderen Blickwinkeln, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was mir vorher entgangen war.
Hätte ich eine Neigung zum Rationalen, hätte ich eingeräumt, dass es sinnlos war. Ich fand in der Vergangenheit wenig Aufschlussreiches für mein eigenes Leben. Ich wusste auch, dass ich den Bildern in meinem Kopf nicht trauen konnte. Die Augenblicke waren in der Zeit festgefroren; sie änderten sich, manchmal unmerklich, während die Jahre vergingen und sich meine Gefühle änderten. Was immer mir auf meinem Lebensweg begegnete, beeinflusste meine Innenund Außenschau auf meine Lebensumstände und die der Menschen in meinem Umfeld. Ich war älter, klüger, weniger tolerant, weniger motiviert, distanzierter – und meine Linse ebenso. Ich konnte meiner Deutung längst vergangener Vorkommnisse nicht länger vertrauen. Ich konnte nur mein Bestes versuchen mit dem, was jetzt auf mich zukam.
Meine Gedanken wanderten zu meiner Mutter und zu Marie. War ihnen bekannt gewesen, was ich jetzt über Dads Leben wusste? Waren sie auch seine Geheimnisträger? Falls ja, was machte das jetzt noch für einen Unterschied? Keine von beiden konnte es mir erzählen oder mir sagen, was ich tun sollte.
Ich war am Zug, falls ich den Mut dazu aufbrachte. Ich war ziemlich sicher, dass ich das konnte, aber zuerst musste ich etwas loswerden. Bevor ich bereit war, kamen die Tränen, und als ich da saß, meine Brust und meine Schultern wogten für diesen Mann – dieser schöne, verkorkste Überlebende –, wusste ich, dass ich meine Tränen auch für mich vergoss. Ich hatte so viel Zeit im Zorn vertan, einen Groll gegen ihn gehegt für das, was er mir angetan hatte. Nicht dass ich dafür keine Gründe gehabt hätte, aber meine Gründe spielten keine Rolle mehr aus solch einem Abstand.Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und versuchte, ihn im Uhrzeigersinn umzudrehen. Der Mechanismus gab nicht nach. Ich bewegte den Schlüssel hin und her und versuchte es erneut und dann in die andere Richtung. Nichts.
»Er hat das Schloss ausgetauscht«, sagte ich mir.
Das Werkzeug, mit dem ich dieses Problem hätte lösen können, lag drinnen im Schuppen.
Ich ging zwei Schritte zurück, dann nahm ich Anlauf zur Tür und trat zu. Der erste Tritt mit meinem gestreckten Bein brachte den Schuppen zum Wackeln. Der zweite löste das unterste Scharnier. Der dritte ließ eine Schraube rausfliegen. Der vierte riss ein kleines Messingteil vom Sperrholz. Fünf weitere höher auf der Tür angesetzte
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