Der Sommersohn: Roman
deines Vaters und die Unschuld deiner Mutter gezogen,und zwar auf der Grundlage eines mühsam konstruierten Beweises. Wälz es nicht auf sie ab, wenn die Realität nicht der Fantasie gleicht.
Ich kann es nicht glauben.
Sieh dir dein eigenes Leben an, deine eigene Ehe. Sie ist auf der Kippe, und ihr habt das beide in Gang gesetzt. In solchen Dingen gibt es kein Schwarz und Weiß. Alles ist ein Grauton. Deine Mutter zumindest hatte so viel Anstand zu erkennen, dass die Ehe zerrüttet war, und ging aus freien Stücken.
Ich sah aus dem Fenster nach Westen, auf die sinkende Sonne. Ein leuchtendes Orange mit gelben Flecken legte sich über Billings.
»Dad?«
»Ja.«
»Auf deinem Zettel stand, dass wir miteinander reden müssen. Über was?«
»Das hat Zeit.«
Ich beugte mich vor und faltete meine Hände.
»Ich habe Kelly angerufen.«
Dad schien weder erregt noch bewegt. Sein Blick blieb auf den Bildschirm geheftet. Er drückte die Fernbedienung, zappte sich durch sämtliche Kabelkanäle, genau wie vorher, als ich noch nichts gesagt hatte.
»Hast du mich gehört?«
»Ich habs gehört«, sagte er.
Ich wartete.
Er mied bewusst meinen Blick, als er endlich sprach.
»Ich wünschte, du hättest das nicht getan.«
»Ich wünschte, du hättest es mir nicht verschwiegen.«
Er sagte nichts, also bohrte ich weiter.
»Ich weiß, wer sie ist. Ich weiß, warum du weggegangen bist. Ich weiß, warum du das einfach ignorieren willst. Ich weiß auch, dass sie dich liebt und du ihr fehlst. Und ...«
»Mitch, halt einfach die Klappe. Okay? Davon sprechen wir gar nicht.«
»Müssen wir aber.«
»Nein, müssen wir nicht. Auch wenn dir das neu und wunderbar vorkommt, für mich ist das Schnee von gestern. Das ist aus und vorbei.«
»Wunderbar?«, fragte ich. »Wie könnte ich das so nennen? Es ist schrecklich. Es bricht mir das Herz. Ich denke nur ... Gott, weißt du, ich bin als Einziger übrig, Dad. Es gibt nur dich und mich. Ich wünschte, du hättest mir genug vertraut, um mich einzubeziehen.«
»Ich wünschte, du hättest mir genug vertraut, um mich sagen zu lassen, dass es ein Ort ist, an dem du nicht sein willst.«
»Du musst jemandem die Tür öffnen. Das hast du nicht mit Mom gemacht, nicht mit Marie, und ich wette, auch nicht mit Helen. Tja, Pop, einen Menschen hast du noch.«
»Alle wussten über Kelly Bescheid.«
»Was?«
»Deine Mom, Marie, Helen. Sie haben es gewusst.«
Meine Annahmen verdrehten sich wieder in etwas, was ich nicht erkannte. Von Marie hätte ich nicht erwarten können, dass sie irgendwas über irgendwas sagt, und Helen kannte ich nicht gut genug, um mich mit ihr nicht nur oberflächlich zu unterhalten. Aber Mom?
»Mom hat nie was zu mir gesagt.«
»Natürlich nicht«, sagte Dad gereizt. »Sie war diskret genug, um Dinge für sich zu behalten, besonders solche.«
»Wie viel hat sie denn ... Ich meine, was hat sie ...«
»Sie wusste so viel, wie sie wissen musste.« Er hatte nicht geantwortet, aber meine Fragen bewegten sich schneller als meine Fähigkeit, seine Antworten zu sezieren.
»Was ist denn mit Kelly? Dad, sie wird von dieser Sache verfolgt. Du fehlst ihr. Sie will dich besuchen. Meinst du nicht, es wäre gut, eine Beziehung mit dem einen Menschen auf der Welt zu haben, der auch dabei war?«
Dad sah mich an. Sein Gesicht war eingefallen.
»Ich bin ein alter Mann. Ich hab sie seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen. Die Vergangenheit lässt man besser ruhen.«
»Immer und in jedem Fall? Das glaube ich nicht.«
»In diesem Fall schon.«
»Lass mich dich was fragen. Warum hast du die Briefe aufgehoben, wenn es dir egal war? Warum hast du sie gebündelt in einer Schachtel aufbewahrt? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Er antwortete nicht. Das konnte er nicht, ohne mir in diesem Punkt recht zu geben, und ich wusste, dass er das nie tun würde.
»Warum bist du hierhergekommen?«
Die Frage traf mich wie ein Gewehrschuss.
»Um dich zu besuchen. Um herauszufinden, was los ist. Du hast doch immer wieder angerufen. Nicht ich. Schon vergessen?«
»Aber du bist auch gekommen, weil du Probleme mit deiner Frau hast. Und anscheinend zehren auch andere Dinge an dir.«
»Tu nicht so, als ginge es hier um mich.«
»Ich will aber, dass es um uns geht. Du weißt doch noch, wie du mir auf der Rückfahrt von Split Rail erzählt hast, dass du etwas auf dem Herzen hättest?«
»Ja.«
»Na, dann mal los.«
»Warum tust du das?«
»Ist es nicht das, was du willst?«
»Ja, doch,
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