Der Sommersohn: Roman
das so üblich, dass du dich von deinem minderjährigen Sohn chauffieren lässt, wenn du gebechert hast?«
Dad sagte nichts. Charley sah mich an.
»Das ist schon vorgekommen«, sagte ich.
»Wann?«
Ich warf Dad einen Blick zu. Er erwiderte ihn nicht. Ich dachte mir, ein bisschen mehr Wahrheit könnte auch nicht mehr schaden.
»Jeden Tag diese Woche.«
Charley beugte sich über Dad und fixierte ihn mit einem Blick, den Dad nicht zu erwidern wagte.
»Ich frage dich nur das eine Mal«, sagte Charley, »und du gibst mir besser eine ehrliche Antwort. Hattest du getrunken, als du mein Kind heute in die Stadt zurückgefahren hast?«
»Nein«, log Dad.
»Bist du ganz sicher?«
»Ja.«
Charley wandte sich zu mir um. Der pochende Schmerz in meinem Kopf wurde stärker.
»Sagt er die Wahrheit?«
»Ja«, log ich.
Charley starrte mich einige unbehagliche Augenblicke an, und dann wandte er sich Dad zu, dessen Augen den Boden fixierten. Schließlich kam er zu mir zurück.
»Okay, Mitch. Sag mir, wie es zu dem Unfall kam.«
Ich holte tief Luft und legte los.
»Also, ich bin gefahren und hatte schlechte Sicht in dem Regen. Plötzlich sah ich ein Reh auf die Straße laufen und trat auf die Bremse. Der Truck fing an, im Schlamm zu rutschen. Daran erinnere ich mich.«
»Das ist alles?«
»Ja.«
»Lass mich sichergehen, dass ich das richtig verstanden habe«, sagte Charley in schriller werdendem Ton. »Ein Junge ist die ganze Woche nachts auf meinen Straßen gefahren, und heute Nacht fährt er den Pick-up zu Schrott, weil er nichts sehen kann und unter den Bedingungen nicht fahren kann, weil er verdammt noch mal elf Jahre alt ist und gar nicht erst am Steuer sitzen sollte. Ist das richtig so, Jim?«
Dad sackte in seinem Sessel zusammen.
»Ja.«
Charley nahm den Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch seine Stoppelhaare.
»Ich sollte dich einbuchten. Angesichts des Vorfalls im Livery und aufgrund dessen, was da draußen passiert ist, sollte ich das wirklich. Das hätte auch viel schlimmer ausgehen können – für euch beide. Jetzt hör mal gut zu, Jim! Ich will, dass du dich von dieser Bar fernhältst. Kapiert? Sollte ich dich da drin erwischen, werf ich deinen Arsch binnen fünf Sekunden in den Knast, und du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich es wahrmache. Du wirst hierbleiben und dich um diesen Jungen kümmern. Er sollte nicht in solche Situationen geraten. Dies hier ist nicht seine Schuld, verstanden? Es ist deine. Wenn du diesem Jungen auch nur ein Haar krümmst, wirst du dir wünschen, dass du nie geboren wärst. Dafür sorg ich. Hab ich mich klar ausgedrückt?«
»Kristallklar«, sagte Dad. »Macht aber nichts. Morgen früh fahren wir nach Utah.«
Charley fuhr sich durch die Haare und setzte seinen Hut wieder auf.
»Tja«, sagte er, »das ist vermutlich auch das Beste.«
BILLINGS | 22. SEPTEMBER 2007
Dads Geheimnis konnte sich nirgendwo verbergen. Ich hatte die Tür seines Refugiums eingetreten, und jetzt lag es vor aller Augen. Das Publikum für diese Lüge bestand aus nur einem Mann, und ich wartete stumm auf seine Ankunft, auch wenn ich vor Wut kochte.
Beinahe hätte ich es nicht bemerkt. Unten in Dads Schachtel fand ich Bilder von mir aus meiner gesamten Schulzeit. Nicht nur die frühen Jahre, als Dad noch in meinem Leben war, sondern auch später, nachdem wir Jerry verloren hatten und zwischen Dad und mir Schweigen eingetreten war. Auf die Rückseite eines Fotos hatte Mom das Jahr und die Klasse geschrieben, und ein bittersüßer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Mein Herz lief über bei der Erkenntnis, dass er diese Bilder von mir gehabt hatte, selbst als ich ihm meine Aufmerksamkeit verweigerte. Moms Handschrift an unerwarteter Stelle zu entdecken, verschlug mir den Atem. Ich verweilte bei den Fotos und erinnerte mich an ihre Worte.
Ich schloss gerade die Schachtel, als ich aus der Kartonfalte die Ecke eines Kuverts aus vergilbtem, altem Papier herauslugen sah.
In Moms perfekter Handschrift, quer über dem Kuvert, stand da schlicht: »Jim.«
3. Juli 1971
Lieber Jim,
ich glaube, wir beide wussten, dass dieser Tag kommen würde, und ich glaube, wir beide wissen, dass es das Beste ist. Die Stiche und Lieblosigkeiten sind von beiden Seiten gekommen, und zwar schon seit langer Zeit, aber es wäre nicht recht von mir zu gehen, ohne um Verzeihung zu bitten. Ich werde das, was ich Dir angetan habe, mein Leben lang bereuen, und das hat nichts mit dem zu tun, was Du mir
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