Der Sommersohn: Roman
es passiert nur im Film«, sagte ich zu Dad. »Aber es war real. Wir ließen die Marines herein, und sie hängten ihre Regen mäntel auf und folgten uns ins Wohnzimmer. Dann teilten sie uns mit, dass Jerry tot sei.«
Dad sah mich an.
»Wie hat Leila das aufgenommen?«
»Das war ... komisch«, sagte ich. »Mom wandte den Blick nicht von den Marines ab. Sie wirkte beinahe gelassen. Ich weiß, es hört sich komisch an, aber so wirkte das auf mich. Ich hörte zu, und ich hörte den Teil darüber, dass die Nation in Jerrys Schuld stehe, und ich hätte beinahe gelacht.«
»Gelacht?«
»Ja. Ich meine, die Nation stand doch in unserer Schuld. Jerry würde nie heiraten, Kinder haben oder alt werden. Wer würde uns dafür entschädigen können? Niemand hat so tiefe Taschen.«
Dad wirkte eingefallen.
Zehn Tage nachdem die Marines bei uns gewesen waren, waren wir am Flugzeug. Wir standen im Regen und sahen, wie der flaggendrapierte Sarg ausgeladen wurde. Wir begleiteten Jerry jene scheinbar endlosen Kilometer auf der Interstate 5 zum Woodlawn-Friedhof.
Ich saß während der Trauerfeier neben Mom, flankiert von Jerrys Freunden von der Highschool, seinem Trainer und Lehrer, Leuten aus der Nachbarschaft und einem Kontingent von Marines. Als die Gewehrsalve vom bleiernen Himmel über Washington wider hallte, zuckte Mom neben mir zusammen. Der Pulverdampf stieg mir in die Nase, und in mir brandete Übelkeit auf.
Ich sah zu, wie mein Bruder der Erde übergeben wurde. Die Flagge wurde meiner Mutter präsentiert, noch so eine Geste, die unseren Verlust nicht im Geringsten wettmachen konnte.
»Ich habe dich gehasst«, sagte ich zu Dad. »Ich dachte daran, wie du hier in Billings rumsitzen würdest, in dem Holiday Rambler,wo es alles anfing. Du hast ihn wegen einer Frau geschlagen, und weg war er. Und du konntest nicht mal dabei sein.«
»Tut mir leid.« Dads Stimme war nur ein Flüstern. »Ich wünschte, ich wäre da gewesen.«
Tränen liefen mir über das Gesicht. Ich hatte seit Langem nicht mehr um meinen Bruder geweint. Dann merkte ich, dass ich gar nicht um ihn weinte, sondern um den Mann mir gegenüber.
Die Abschiede, die man verweigert, müssen die schwersten sein.
Die Zeit war für Dad und mich stehen geblieben, doch die Welt drehte sich weiter um ihre Achse. Auf dem Bildschirm zog die Kommerzkarawane vorbei und beleuchtete schwach ein sonst dunkles Wohnzimmer.
»Ich werde ihn wiedersehen«, sagte Dad.
»Du fährst nach Olympia?« Ich war schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen, nicht seit ich Mom verloren hatte. »Ich komme mit.«
Dad sah hoch. Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Ein Schauer durchzuckte mich.
»Nein, Mitch. Ich sterbe.«
Ich hörte zu, wie Dad endlich die Puzzleteilchen zusammenfügte, zu dem Bild, dass mich gezwungen hatte, nach Billings zu kommen.
Eine Routineuntersuchung. Ein Marker in Dads Blut, der dem Arzt aufgefallen war. Dann kam die Auflösung eines Lebens.
Bei einer Untersuchung fand man eine Schwellung in Dads Lymphknoten. Da hatte er angefangen, mich anzurufen. Er musste reden, aber er fand keine Worte.
Ein paar Tage nach meiner Ankunft war er nicht an Helens Grab gegangen, sondern in ein Krankenhaus für eine Computertomografie. Das Urteil: Bauchspeicheldrüsenkrebs marschierte durch seinen ganzen Unterleib. Die Diagnose war so düster, wie sie nur sein konnte. Die Ärzte sahen keine Chance, zu operieren oder den Krebs mit Chemotherapie zu bekämpfen. Dad bekamden Rat, seine Angelegenheiten zu ordnen und sich auf das, was ihm bevorstand, vorzubereiten. Zwei Tage lang hatte er überlegt, wie er es mir sagen sollte, und ich hatte diese Tage damit verbracht, sein Leben auseinanderzureißen.
Ich hatte meinen Vater endlich erreicht. Bald würde er fort sein. Wie viele Opfer konnte man von einer Familie erwarten?, grübelte ich? Jerry tot. Mom tot. Dad im Sterben.
»Dann hab ich keinen mehr«, sagte ich leise.
»Quatsch«, sagte er, und ich bemerkte mit einem weinendem und einem lachenden Auge, dass mein bärbeißiger Vater wieder da war. »Du hast eine Frau. Du hast zwei Kinder. Du liebst sie doch, oder?«
»Ja.«
»Dann häng dich rein. Häng dich rein und lass nicht wieder los.«
Schweigen fädelte sich durch unsere kurzen Gesprächsausbrüche. Als ginge uns nach jeweils wenigen Worten schon wieder der Atem aus. Wenn die Jahrzehnte sich in die Dämmerung eines einzigen Tages abspulen, weiß man kaum, wonach man greifen soll.
»Dad?«
»Ja?«
»Können wir über
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