Der Sommersohn: Roman
Milford reden?«
»Haben wir doch gerade getan, oder?«
»Ja. Aber ich frage mich ...«
»Was?«
»Du hast mich weggeschickt. Warum hast du das getan?«
»Mitch, das ist lange her.«
»Ich weiß.«
»Es war eine schlimme Zeit.«
»Ich weiß. Aber Dad, ich nicht drüber weg.«
»Es war einfach ein Fehler, Mitch. Nur ein Fehler.«
Er gähnte.
Ich ließ ihn vom Haken.
Als es in Dads Haus dunkel geworden war, wollte er schlafen gehen.
»Wie lange?«, fragte ich.
»Drei Monate. Sechs Monate. Schwer zu sagen. Nicht lange.«
Ich ging zu ihm und umarmte ihn. Ich hielt ihn fest, bis er auch er mich drückte.
Ein paar Minuten später hörte ich Schnarchlaute unter der geschlossenen Schlafzimmerzimmertür hervorkommen. Erschöpft wie ich war, hatte ich keine Lust zu schlafen. Ich hatte zu vieles in Einklang zu bringen und nicht annähernd genug Zeit dafür.
Ich wusste auch, dass ich es nicht allein schaffen konnte.
Ich schlüpfte zur Haustür hinaus. Ich ging bis ans Ende von Dads Auffahrt und machte den Anruf.
»Komm her, so schnell du kannst.«
BILLINGS | 22. SEPTEMBER 2007
Ich lag im Bett, denn sonst gab es nichts zu tun. Der Schlaf wollte nicht kommen. Meine Emotionen waren angezapft, aber die Gedanken spielten immer noch Pingpong in meinem Schädel.
Ich hatte Jerry jeden Tag mit mir herumgetragen, seit die Nachricht 1983 an unsere Tür kam. Voller Stolz trug ich denselben Namen wie er; es war sein Vermächtnis, das auf mir lastete. Ich verlor ihn, als ich fünfzehn war, und ich hatte mit seinem Schatten zu kämpfen. Da er den Heldentod gestorben war, wurde er ein besserer Sportler, ein besserer Schüler, ein besserer Mensch im Tod, als er im Leben je gewesen war. Nicht dass ich Jerry nicht geliebt und er mir nicht gefehlt hätte. Aber ich sehnte mich nach jemandem, mit dem ich so über ihn reden konnte, wie ich ihn kannte – dickköpfig, boshaft, arrogant, und ja doch, gutherzig –, statt ihn als eine Art Ideal hinzustellen, mit dem ich mich nur deshalb nicht messen konnte, weil ich erstens am Leben und zweitens nicht er war.
Ich drehte mich um und schlug auf mein Kissen. Ich rieb mich an der Erinnerung und meinem alten Groll. Ich musste lernen, einige dieser Dinge loszulassen.
Und,
wie ich mir in Erinnerung rief,
war es nicht so, als ob Mom und ich uns nicht auch derselben Totenverehrung schuldig gemacht hätten.
Wir erstickten in unserem Haus in der Upper Eastside von Olympia, nachdem er nicht mehr war. Seit Anfang der Siebzigerjahre war das unser Zuhause gewesen, und seine Abwesenheit riss ein Loch, das wir weder mit Erinnerungen noch mit Bedauern füllen konnten. Mom fand für uns ein Stadthaus in der Nähe der Bucht, und wir zogen um. Ich blieb bis zu meinem Highschool-Abschluss und meiner Abreise nach Kalifornien auf dem College in Berkeley. Sie blieb bis zu ihrem Tod. Noch ein Verlust.
Ich wälzte mich wieder im Bett herum und spielte in Gedanken Dads Enthüllung durch, warum Mom ihn verlassen hatte. Sie erschütterte mich bis ins Mark. Ich schloss die Augen und beschwor sie herauf, und mir kam in den Sinn, wie ich manchmal darüber nachdachte, warum sie nie wieder einen Mann in unser Leben gelassen hatte. Meine Mutter war keine Nonne, aber am Ende waren die Männer in ihrem Leben Jerry und ich und dann nur noch ich. Dreizehn Jahre lang, nachdem ich fortgegangen war, erst zur Uni und dann in mein eigenes Leben, behielt sie die Routinen und Freundschaften in Olympia bei. Sollte sie ihre Entscheidungen je bereut haben, dann nahm sie die Reue mit ins Grab.
Die Sturzflut der Erinnerung trug mich zu jenem Tag im November 1999 zurück, als ich von ihrem Tod erfuhr. Nur dank der Trägheit der Masse konnte ich mich auf dem Flug von San José nach Seattle und während der Fahrt auf der Interstate 5 zur Klinik in Olympia beherrschen. Ich machte den Pflichtbesuch in der Leichen halle und holte dann Cindy, damit sie mir beim Abschiednehmen zur Seite stünde.
Der Kummer überwältigte mich erst, als ich das Hackfleisch auf dem Küchentresen fand, das meine Mutter an ihrem letzten Morgen dort zum Auftauen hingelegt hatte, vor ihrer letzten Autofahrt, vor ihrem letzten Atemzug. Sie hatte Tacos zum Abendessen geplant. Die Weizentortillas, die Tomaten, der Käse, die Avocados lagen im Kühlschrank bereit.
Ich saß am Esstisch und weinte. Dann bereitete ich die Tacos zu, obwohl ich keinen Appetit hatte. Sie hätte sie nicht umkommen lassen wollen.
In Moms Schrank fand ich Fotoalben, die bis in ihre
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