Der Sommersohn: Roman
das Potenzial und die besten Eigenschaften in jedem – selbst in den Menschen, denen zu trauen sie keinen Grund hatte. Menschen wie Dad.
»Nicht ausdrücklich, nein, aber ich weiß, was ich weiß.«
Dad nahm im Fernsehsessel Platz und winkte mich auf das Sofa. Ich setzte mich und sah ihm in die Augen.
»Ich war ein schlechter Ehemann. In dem Punkt hast du recht. Ich habe zu viel gearbeitet, ich war zu oft weg, ich habe Leila für selbstverständlich genommen, und ich habe Abende in Bars verbracht statt zu Hause bei dir und Jerry und deiner Mom. Aber betrogen hab ich sie nie.«
Ich glaubte ihm nicht. »Okay«, sagte ich. »Selbst wenn das stimmt, warum hat sich dich um Verzeihung gebeten?«
Er legte eine unbehagliche Pause ein, bevor er antwortete: »Weil sie mich betrogen hat.«
Ich wollte ihm seine verlogene Fresse polieren. Mir schwindelte angesichts der Frechheit, mir solch eine skurrile Lüge über meine Mutter aufzutischen, von der er genau wusste, dass ich sie nicht wider legen konnte, da sie ihn jetzt nicht mehr Lügen strafen konnte.
Ich saß und hörte ihm zu, wie er mit einer Fülle von Plattitüden über die Frau aufwartete, die er eben noch als Ehebrecherin bezeichnet hatte.
»Versteh mich jetzt nicht falsch, ich ziehe nicht über Leila her. Ich habe ihr nicht viel Halt gegeben, und sie hat sich einsam gefühlt. Sie war eine junge Frau, die viel zu bieten hatte, und ich ein Mann, der ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die sie brauchte. Zum Teufel, so sehr ich mich auch darüber geärgert habe, ich konnte es auch verstehen.«
Mir lief die Galle über.
»Du bist ein verdammter Lügner.«
»Nein, nicht in diesem Fall.«
»Du bist fremdgegangen.«
»Nein.«
»Du bist so ein Arschloch. Tu tust so, als ob ich nicht wüsste, was ich weiß. Erinnerst du dich an die Nacht, bevor Jerry verschwunden ist? Ich war nur vier Meter weit weg, als du das Mädchen gefickt hast. Sie war nicht deine Frau. Sitz nicht so da und erzähl mir, dass du nicht fremdgegangen bist.«
»Zum Teufel noch mal, das war doch Jahre später. Davon rede ich gar nicht, und ich habe auch nichts gemacht, was Marie nicht selbst gemacht hätte. Ich rede von dir und deiner Mutter.«
»Und ich sage, wer einmal betrügt, der macht das immer wieder.«
Dad warf mir den Brief hin.
»Lies ihn noch mal, Mitch. Hört sich so eine Frau an, die betrogen wurde? Gebrauch doch mal deinen verdammten Kopf.«
»Fick dich.«
Er schob mir den Brief rüber. »Lies ihn.«
Ich nahm ihn aus seinen Händen und las ihn noch mal. Und die Niedergeschlagenheit beschlich mich erneut, dasselbe Gefühl,das mich durchflutete, als Dad vorgefahren war. So sehr ich auch was anderes glauben wollte – ich hatte meine Identität darauf aufgebaut, etwas anderes zu glauben –, ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Das konnte ich verinnerlichen. Aber ich konnte es nicht akzeptieren. Nicht in dem Moment. Nicht dort. Nicht ihm gegenüber.
Stattdessen startete ich die Offensive. Diese Szene hatte sich so oft in meinem Kopf abgespielt. Nicht ein einziges Mal war ich schockiert gewesen. Ich bemühte mich, es auch jetzt nicht zu sein, selbst, als der Boden unter meinen Füßen schwankte.
»Warum dann die Scheidung? Wenn du sagst, dass sie eine wunderbare Ehefrau war, abgesehen von dieser einen Sache, warum hast du sie dann fortgejagt? Warum hast du uns nicht zurück geholt?«
»Mitch, ich weiche dir nicht aus, aber ich weiß es nicht. Ich wollte es versuchen. Deiner Mom war das Vorgefallene so peinlich. Ich denke, sie hat das Menetekel gesehen. Mit unserer Ehe lief es nicht besonders. Ich wollte, dass sie bleibt. Sie hatte das Gefühl, gehen zu müssen. Und das war meine Schuld. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie gehen lassen musste, wenn sie das wollte.«
Lange Zeit schwiegen wir. Dad saß in seinem Sessel, ich in meinem, und wir waren zusammen, aber allein mit unseren Gedanken. Meine schwammen in einer Flut von Widersprüchen.
Warum hatte Mom mir nie erzählt, was passiert ist?
Was hätte sie denn sagen sollen? ›Mitch, ich habe deinen Vater betrogen‹? Ach, Quatsch.
Unfassbar. Wie konnte sie so etwas tun?
Sie war auch nur ein Mensch. Sie war nicht unfehlbar. Du erweist dir selbst einen schlechten Dienst, wenn du behauptest, dass sie das war, weil du es besser weißt.
Wie hatte sie mich so lange etwas anderes denken lassen können, dass ich ihm die Schuld zuschob?
So etwas hatte sie nie getan. Du hast deine eigenen Schlüsse über die Untreue
Weitere Kostenlose Bücher