Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
die dem Hausmädchen Anweisungen für das Mittagessen und die Betreuung der kleinen Schwestern gab.
Ich ging mit, wohin die Glocken riefen, ich tat etwas, wozu ich nicht gezwungen oder gedrängt war, ich ging zwei Schritte weiter, als man von mir erwartete, vielleicht um mir Zuneigung zu erhandeln oder die Zusage für das Radiohören am Nachmittag abzusichern, vielleicht um mich selbst für eine Stunde in die Erwachsenenwelt zu heben oder die Nähe der Mutter zu gewinnen, vielleicht aus Neugier oder einer Mischung aus allem. Die Glocken klangen lauter und freundlicher als am frühen Morgen, die tönenden Magneten, die mich anzogen und abstießen, abstießen und anzogen mit ihrem wuchtigen Dreiklang, schöner als das bettelnde Hämmern einer einzelnen Glocke beim Vaterunserläuten oder Mittagsläuten oder
Hinläuten,
wenn dem Dorf bekanntgegeben wurde, dass jemand gestorben war.
Durch die offene Haustür sah ich über den blühenden Garten hinweg erst unter den Linden auf dem Kirchplatz, dann näher kommend hinter der Hofmauer die Köpfe der Kirchgänger, Männer nahmen vor der Tür den Hut ab, eine Frau zog ihr Kopftuch fest, fast alle blickten kurz auf, als müssten sie noch einmal Atem holen, ehe sie in die dünne, feierliche Höhenluft des Kirchenraums tauchten. Kinder waren nicht zu sehen, für Kinder war der Kindergottesdienst da, ich hörte die Glocken, dachte an die Kinder, die nicht zur Kirche gingen, und fand in den Glocken einen Rhythmus wieder, den Rhythmus eines Gedichts, das wir gerade gelernt hatten in Deutsch,
Es war ein Kind, das wollte nie / Zur Kirche sich bequemen,
Verse und Reime, die sich immer deutlicher in den Glockenklang mischten und mich unangenehm berührten. Obwohl ich mich oft zur Kirche
bequemte,
selbst wenn es nicht
befohlen
war, kannte ich die Lust des Kindes im Gedicht,
den Weg ins Feld zu nehmen.
Mir brauchte man nicht zu sagen, dass die Kirchzeit nicht die rechte Zeit für
den Weg ins Feld
war, trotzdem kannte ich den Konflikt und spürte, obwohl meine Mutter nie so drastisch wurde, die Drohung, den Fluch der Mutter im Gedicht:
die Glocke wird dich holen.
Ich wusste, wie fest die Glocken oben im Turm in den Balken hingen, und konnte doch die Vorstellung nicht aus dem Kopf schütteln, die, im Glockentakt gereimt, so schrecklich wie komisch war,
Die Glocke Glocke tönt nicht mehr, / Die Mutter hat gefackelt. / Doch welch ein Schrecken hinterher! / Die Glocke kommt gewackelt.
Ich fühlte die Überraschung, den Schrecken des Kindes, das von der Glocke, die sich losgemacht hat, verfolgt und gejagt wird,
Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum, / Das arme Kind im Schrecken, / Es lauft, es kommt als wie im Traum, / Die Glocke wird es decken.
Die drei Glocken riefen, ich gehorchte, ich war bereit, es war alles in Ordnung, ich widersprach nicht, war nicht in
Anger, Feld und Busch,
aber ich sah mich in
Anger, Feld und Busch,
sah das Lesebuchbild, wie die Glocke über das Kind stürzt und kurz davor ist, es zu
decken,
einzusperren, zu zerschmettern oder ersticken, sah mich erstickt, zerschmettert, eingesperrt, gedeckt. Ich leistete mir solchen Ungehorsam nicht und fühlte ihn trotzdem samt der Strafe, die ihm folgte: ich verstand das Gedicht, verstand vielleicht kein Gedicht besser als dieses, ich hasste das Gedicht, sah hinter den Zeilen, den Reimen vertraute Gefahren. Ich verwünschte den Dichter, der unser größter Dichter sein sollte, weil er mit dem Schrecken des
armen Kindes
spielte, und war enttäuscht, dass die Unterwerfung unter solche Befehle der Eltern und ihren lieben Gott sogar in einem Lesebuchgedicht verlangt und verherrlicht wurde,
Und jeden Sonn- und Feiertag / Gedenkt es an den Schaden, / Lässt durch den ersten Glockenschlag, / Nicht in Person sich laden.
Das Bündnis des Dichters mit dem Deutschlehrer bekräftigte das Bündnis von Vater und Mutter und Glocke und Kirche, der Dichter ließ dem Kind keinen Ausweg, er schlug es sogar mit der
wandelnden Glocke,
bis es sich fügte, was war von der Dichtung zu erwarten, wenn sie zu denen hielt, vor denen ich zittern und stottern musste, und die Hoffnung auf etwas Neues, auf eine bessere Aussicht verschloss, die ich im Fußball, auf dem Fahrrad, in der Arithmetik der Lügen und in flüchtenden Phantasien zu entdecken begann – so ähnlich dachte ich, ohne es zu merken und ohne Sprache, weil es der Gedanke einer Sekunde war, verflogen wie die Glockentöne einer Minute, die längst von neuen Glockentönen
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