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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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Hochzeiten? Liegt in der Predigerstimme mehr Wärme als in der Vaterstimme? Und wenn die bannende, tröstende Kraft seiner Stimme nur während seiner dienstlichen Auftritte zu spüren ist, muss er dann nicht, so dachte ich weiter, ohne in Worten zu denken, über zwei Stimmen, zwei Kräfte, zwei Seelen verfügen, eine menschliche und eine göttliche?
    ER
ist unser Friede,
der Kanzelspruch meinte Christus, ich sah den Vater Pfarrer reden und seine linke Hand neben dem Spruchtuch liegen. Ich übertrug, als müsste ich meine Verwirrung noch steigern, die Worte auch auf ihn, weil er nicht mein Friede war, sondern mich dem fürchterlichsten Unfrieden dieser Fragen aussetzte. Im Schrecken solcher Vermutungen war ich verloren, für immer alleingelassen mit der Ungewissheit, ob ich es mit der väterlich-menschlichen oder der väterlich-göttlichen Seite zu tun hatte, und darum traute ich beiden nicht – der göttlichen nicht, weil sie nur im Glauben zu haben war, der menschlichen nicht, weil sie mit göttlichen Splittern und Scherben durchmischt war oder jederzeit in die göttliche umkippen konnte.
    Was für ein Mann war das, der mit seiner eigenen Stimme
im Namen des Vaters
sprechen konnte, in seinem Namen und
in seinem Namen
? Warum stieß er mich mit solchen Formeln in die betrügerische Zweideutigkeit jedes Wortes zurück, warum verdarb er damit sogar das einfache Wort Vater? Ich wusste nicht, ob er diese Zweideutigkeit absichtlich schürte und warum er mir nicht half, indem er sich Vati oder Papa oder Papi nennen ließ wie andere Väter, warum er sich so anreden ließ wie seine Frau ihren Vater, meine Mutter den Großvater anredete, warum er auf der Anrede bestand, mit der wir den Herrgott anredeten, und warum ich es nicht wagte, ihn anders zu nennen oder es wenigstens zu probieren.
    Ich versuchte mir zu helfen und ihn mir vorzustellen ohne den schwarzen Talar, sah ihn, wie er Briefmarken sortierte, Dias rahmte, eine Extrarunde mit mir auf dem Motorrad drehte, seine Schülerwitze im Kasseler Dialekt machte, sich im Garten bückte. Bei einigem Abstand zu Kirche und Amt, auf Reisen, bei Verwandten, war er schon ein anderer Mensch, und am liebsten sah ich ihn, wenn er sich neben die Eisenbahn kniete, die an Weihnachtstagen durch sein Arbeitszimmer fahren durfte, und für Augenblicke, auf dem Teppich liegend, den Aufziehschlüssel der Lokomotive in der Hand, das Kind in sich zeigte und das flüchtige Bedauern, erwachsen zu sein, ehe er seinen unsichtbaren oder seinen schwarzen Talar wieder anlegte und von oben herab sprach.
    Hinter dem Altar an der Wand saßen auf ihrer Bank die Kirchenältesten, die vor der Predigt mit dem Klingelbeutel herumgelaufen waren. Über ihnen steinerne Gedenktafeln für die toten Soldaten von 1870 / 71 ,
Es kämpften für König und Vaterland,
und daneben die von 1914 – 1918 ,
Helden, gefallen im Ringen um Deutschlands Ehre und Sein, Nie soll ihr Name verklingen, heilig soll er uns sein.
Auch der Name des Vaters meines Vaters stand in so eine Tafel gemeißelt in Westfalen, ich hatte Glück gehabt, mein Vater war nur in Gefangenschaft gewesen, fast drei Jahre bei den Franzosen, ohne schwere Wunden zurückgekommen, dank
Gottes Segen,
Glück, hatte sich fünf Jahre nicht gezeigt, Pech, und war dann plötzlich aus dem Boden gewachsen als
der
Vater, was für ein Glück, und aufgestiegen ins dunkle Gewand unnahbar, Pech, nein, Glück, wenn ich an die Kinder mit toten Vätern dachte.
    Unten neben den Frauenbänken hatten die Adligen ihren
Stand,
die Baronin und ihre Familie, die alles besaß, nur den Vater nicht. Wie in einem offenen Kasten hockten sie da zu fünft, gleichsam ausgestellt auf den Plätzen, die ihnen niemand streitig machen durfte, die oberen Körperhälften unter den Kontrollblicken der restlichen Gemeinde von unten, von oben, von der Mitte und immer nah am Pfarrer, aber sie saßen in ihrer Loge auf Sitzkissen, weil die Baronin das Patronat über die Kirche hatte. Sie waren Besitzer, ihnen gehörten mehr als zwei Drittel der Wälder ringsum, das andere Drittel besaß die andere Adelsfamilie, die in der mittleren Kirchenetage, neben unseren Plätzen, ihren eigenen
Stand
hatte. Sie wohnten im Schloss, sie hatten das Schloss Flüchtlingen geöffnet, Flüchtlingen von Adel, sie hatten mehr Macht, mehr Geld als die anderen im Dorf, sie versuchten sich gut zu stellen mit allen und zu arbeiten wie alle, sie öffneten das Dorf für die ersten Besucher aus USA und Finnland, aber das Wichtigste

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